Die konservativen US-Bundesstaaten überbieten sich derzeit mit immer strengeren Gesetzen gegen Schwangerschaftsabbrüche. Wie jüngst bekannt wurde, will jetzt auch der Oberste Gerichtshof des Landes das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibungen abschaffen.
Seit Jahren gewinnen dort sowohl in der republikanischen Partei als auch am Supreme Court erzkonservative Kräfte zunehmend an Macht. Die USA-Expertin Annika Brockschmidt warnt schon lange vor der Bedrohung durch die sogenannte Religiöse Rechte.
"Das Ende des US-Abtreibungsrechts ist nur der Anfang vom Ende", schreibt sie im News-Blog "Volksverpetzer".
Die Konservativen haben sich nämlich auch die Abschaffung der gleichgeschlechtlichen Ehe sowie des freien Zugangs zu Verhütungsmitteln auf die Fahnen geschrieben. Mittelalterlich anmutende Vorhaben, die laut Annika Brockschmidt, aufgrund des wachsenden Einflusses der Religiösen Rechten in den USA auf einmal erschreckend real sind.
watson: Frau Brockschmidt, der Oberste Gerichtshof plant, das Abtreibungsrecht in den USA abzuschaffen. Was macht dieses Vorhaben Ihrer Einschätzung nach so problematisch?
Annika Brockschmidt: Der Urteilsentwurf ist radikal, weil er negiert, dass das aus dem 14. Zusatzartikel der Verfassung abgeleitete Recht auf Privatsphäre existiert. Die Folgen dieses Urteils sind nicht nur dramatisch, was das Recht auf Abtreibung angeht – denn das würde in der Hälfte der Staaten aufhören zu existieren – sondern auch im Hinblick auf alle anderen Urteile des Supreme Court, die sich auf das Recht auf Privatheit stützen und jetzt potenziell gefährdet sind.
Welche weiteren Urteile meinen Sie?
Das Recht, Verhütungsmittel zu benutzen, die gleichgeschlechtliche Ehe und sogar die zwischen den Ethnien. Es wäre schlimm genug, wenn es hier "nur" um das Recht auf Abtreibung ginge, aber leider geht es um noch so viel mehr.
"Das Ende des US-Abtreibungsrechts ist nur der Anfang vom Ende", schreiben Sie in einem Beitrag bei "Volksverpetzer". Welche weiteren Ziele verfolgen die Religiösen Rechten mittelfristig und was ist ihr ultimatives Ziel?
Zahlreiche einflussreiche Republikaner haben bereits die Möglichkeit angesprochen, ein nationales Abtreibungsverbot durchzusetzen. Einige von ihnen haben schon ganz klar gesagt, dass sie wollen, dass Verhütungsmittel nicht mehr frei für alle verfügbar sind. Andere haben bereits geäußert, dass sie finden, der Supreme Court habe falsch entschieden, als er die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert hat – das schreibt übrigens auch Richter Samuel Alito in seinem Urteilsentwurf.
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass auch das Vorhaben, den freien Zugang zu Verhütungsmitteln zu verbieten, Erfolg hat?
Es gibt keinen Grund, davon auszugehen, dass der Supreme Court davor zurückschrecken würde. Denn die Richter, die das Grundsatzurteil zum Recht auf Abtreibung kippen wollen, haben diesbezüglich schon in der Vergangenheit gelogen – warum sollten wir ihnen also jetzt glauben, wenn sie behaupten, Verhütungsmittel nicht anrühren zu wollen? Außerdem sagen viele Republikaner offen, dass sie es vorhaben und bereiten schon in einigen Bundesstaaten Gesetze vor, um den Zugang zu Verhütungsmitteln zu verbieten.
Erkennen Sie darin eine übergeordnete Strategie?
Ja, diese Gesetze, auch wenn sie verschiedene Themen betreffen, hängen zusammen. Es geht um die Etablierung weißer, rechter, christlicher Dominanz – auf Kosten von marginalisierten Bevölkerungsgruppen. LGBTQ-Rechte werden angegriffen, besonders die von trans-Kindern und -Jugendlichen, und eine steigende Suizidrate unter queeren Menschen in Kauf genommen – denn das wird das Ergebnis dieser Gesetze sein.
Wie sind die Religiösen Rechten in den USA überhaupt so stark geworden?
Das liegt an vielen verschiedenen Faktoren. Sie haben sich einerseits eine extrem starke politische Infrastruktur aufgebaut und systematisch die Basisränge in einzelnen Organisationen besetzt – von der Waffenlobby über den Südverband der baptischen Kirchen bis hin zur Republikanischen Partei, und diese schließlich übernommen. Gleichzeitig hat die konservative Bewegung in den USA extreme Wurzeln, die man allzu lange vergessen hat. Ihre zunehmende Radikalisierung ist schockierend, aber nicht überraschend.
Die Konservativen dominieren den Supreme Court mit einer Mehrheit von 6:3 Stimmen. Sie schreiben beim "Volksverpetzer", das Gericht habe sich radikalisiert. Welche Gefahr stellt dieser christlich-fundamentalistische Supreme Court konkret dar?
Er stellt eine fundamentale Gefahr für das Bestehen der amerikanischen Demokratie dar. Fachleute warnen seit geraumer Zeit, dass es eines der Hauptziele der Religiösen Rechten ist, den Obersten Gerichtshof mit den Ihren zu besetzen. Jetzt sind sie am Ziel – denn jedes Gesetz, jede Reform, die die Demokratie schützen soll, wird vor dem Supreme Court enden. Und der hat sehr deutlich signalisiert, wie er dann reagieren wird.
Sind solche rückschrittlich anmutenden Ideologien heutzutage überhaupt noch mehrheitsfähig?
Die amerikanische Religiöse Rechte weiß seit ihrem organisierten Beginn in den 60er Jahren, dass sie auf Dauer zahlenmäßig keine Mehrheiten mehr gewinnen kann – und sie hat beschlossen, dass das auch nicht nötig ist. Wenn sie sich zwischen dem eigenen Machterhalt und dem Bestehen der Demokratie entscheiden müssen, fällt ihnen die Entscheidung nicht schwer: gegen die Demokratie. Das ist nicht meine Interpretation, das wird aus Quellen aus ihrer Gründungszeit klar deutlich.
Die Journalistin Patricia Hecht prognostizierte jüngst im Deutschlandfunk, dass die verschärften Abtreibungsgesetze in den USA auch andere Länder beeinflussen könnten. Teilen Sie diese Sorge?
Das Geschehen in den USA findet nicht in einem Vakuum statt. Die amerikanische Rechte hat eine Vorbildfunktion für die globale religiöse und politische Rechte. Man schaut dort in die USA, um sich inspirieren zu lassen, um einen ähnlichen Erfolg auch im eigenen Land zu erreichen. Insofern ist es absolut berechtigt, sich zu sorgen, dass der Erfolg der Rechten in den USA eine Signalwirkung hat, die der globalen Rechten Aufschwung verschafft.
Welche Auswirkungen könnte das Erstarken der Religiösen Rechten in Deutschland haben?
Die Religiöse Rechte in Deutschland hat zwar ebenfalls ihre eigenen Institutionen, Think-Tanks und Beziehungen in die Politik, verfügt aber noch nicht über dieselbe politische Infrastruktur wie in den USA. Außerdem macht das deutsche Wahlsystem eine Herrschaft der Minderheit schwieriger als das in Amerika der Fall ist. Aber: Auch hierzulande sehen wir den Einfluss selbsternannter "Lebensschützer", die die Autonomie von schwangeren Personen einschränken wollen, die anti-LGBTQ sind und die Abtreibung verbieten wollen. Wir sollten uns nicht in der Gewissheit wiegen, dass bereits errungene Rechte für immer sicher sind. Zumal auch Deutschland nach wie vor ein sehr restriktives Abtreibungsgesetz hat.