Arye Sharuz Shalicar ist im Berliner Stadtteil Wedding aufgewachsen – im Getto. Als Jugendlicher war er kriminell, sprayte Graffitis, flog zu Hause raus. In der Schule lief es lange Zeit mehr schlecht als recht. Heute ist der 44-Jährige offizieller Sprecher der israelischen Armee und arbeitet für die Regierung in Israel.
Sharuz Shalicar hat sich rausgearbeitet aus seiner prekären Situation. Nach seinem Abitur verließ er Deutschland und leistete seinen Wehrdienst bei der israelischen Armee. Dass er den Absprung geschafft hat und sich nicht mit einer Gefängnisstrafe das Leben versaut hat, verdankt er nach eigenen Aussagen seinem besten Freund und seiner damaligen Freundin.
Zwei Bücher hat Sharuz Shalicar bereits geschrieben: "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude: Die Geschichte eines Deutsch-Iraners, der Israeli wurde" und "Der neu-deutsche Antisemit: Gehören Juden heute zu Deutschland? Eine persönliche Analyse". Sein drittes Buch hat er in dieser Oktoberwoche veröffentlicht. Es heißt: "100 Weisheiten, um das Leben zu meistern: Selbst wenn du aus dem Getto stammst". Sharuz Shalicar möchte damit Menschen helfen.
watson hat mit ihm über sein Buch gesprochen. Und über das Aufwachsen im Berliner Getto, Antisemitismus und die Aufgaben von Politik und Gesellschaft.
watson: Herr Sharuz Shalicar, vermissen Sie Berlin manchmal?
Arye Shalicar Sharuz: Ich habe eine Hass-Liebe mit Berlin. Meine prägenden Jahre habe ich hier verbracht, trotzdem musste ich gehen, um überleben zu können.
Sie haben in Ihrem Buch geschrieben, dass Sie sich irgendwann gar nicht mehr getraut haben, zu sagen, dass Sie Jude sind. Stattdessen hätten sie versucht durchzurutschen, als Türke, als Moslem.
Oder einfach als Mensch.
Oder als Mensch. Trotzdem ist herausgekommen, dass Sie Jude sind. Wie war das für Sie?
Ich musste um mein Leben fürchten, weil mich Gangs zusammenschlagen wollten. Ich erinnere mich an eine Geschichte, als ich mit einem türkischen Freund unterwegs war und eine Gang aus Palästinensern mir die Seele aus dem Leib prügelte. Sogar mein bester Freund in der Schule wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Er konnte erst gar nicht glauben, dass ich Jude bin.
Wieso konnte er das nicht glauben?
Weil wir befreundet waren und ich nicht in das Bild passte, das er von Juden hatte. Ich habe ihm zum Beweis dann meine Kette mit dem Davidstern gezeigt, die mir meine Oma geschenkt hatte.
Als der Nahost-Konflikt im Mai wieder hochgekocht ist, gab es viel Solidarität und viele pro-israelische Demonstrationen in Deutschland. Auch als Gil Ofarim in einem Leipziger Hotel aufgefordert wurde, seine Kette, an der ein Davidstern war, abzunehmen, platzten Twitter und die Zeitungen aus allen Nähten.
Juden brauchen keine Fake-Solidarität. Juden brauchen viel Selbstbewusstsein.
Denken Sie, dass es irgendwann möglich ist, Antisemitismus zu überwinden?
Nicht wirklich. Die Vorurteile gegen Juden sitzen tief. Ich bin oft in deutschen Schulen und halte Vorträge. Wenn ich dort frage, wer schonmal das Wort Jude im Zusammenhang mit einer Beleidigung gehört hat, melden sich bestimmt 99 Prozent der Anwesenden. Wenn ich frage, wie viele einen Juden in ihrem Freundeskreis haben oder persönlich kennen, bleiben mindestens 99 Prozent der Hände unten.
Was müsste dagegen getan werden?
Antisemitismus komplett zu besiegen, daran glaube ich nicht. Jedoch empfinde ich es als zunehmend wichtig, dass man auf der Straße, in Schulen, in der Politik und in den sozialen Netzwerken dagegen vorgeht, und zwar gegen jeden Antisemitismus, von rechts, links und von Muslimen.
Ihr Buch soll Menschen helfen ihr Leben zu meistern, auch wenn sie aus dem Getto sind. Eigentlich sind aber nicht Sie dafür verantwortlich, dass andere Menschen ihr Leben auf die Kette bekommen. Eigentlich ist es die Aufgabe der Politik jedem Menschen die gleichen Chancen zu ermöglichen. Was müsste passieren, damit nicht mehr so viele Menschen hinten runterfallen?
In jeder Gesellschaft gibt es Menschen, die nicht mitkommen. Die hinten runterfallen. Was sie vor allen Dingen brauchen, ist Hoffnung, jemanden der ihnen zeigt, dass es einen Tag danach gibt. Dass sie etwas erreichen können und sich nicht als Loser fühlen müssen.
Das könnten zum Beispiel Lehrer sein.
Wenn sie nicht versuchen würden, direkt nach dem Gong direkt in ihren Stadtteil zurückzukehren. Keiner meiner Lehrer hat mich sonderlich gefördert. Stattdessen habe ich nach der Grundschule eine Empfehlung für die Hauptschule bekommen. Meine Eltern haben dann eine für die Realschule rausgehandelt, so hatte ich schließlich die Möglichkeit das Abitur zu machen. An einer Elite-Uni in Israel zu studieren. Für die Regierung zu arbeiten.
Denken Sie, dass Sie mit Ihrem Buch die Menschen erreichen, die Sie gerne erreichen möchten?
Zum einen denke ich, dass das Buch jedem helfen kann – auch den Menschen, die nicht aus schwierigen Verhältnissen kommen. Mein Leben im Getto hat mich stark gemacht, auch wenn ich mich damals als Loser gefühlt habe. Außerdem denke ich schon, dass auch die Jugendlichen aus dem Getto mein Buch lesen. Ich habe zu vielen meiner Leute von früher noch Kontakt. Auch zu Sozialarbeitern. Es hilft, dass die Menschen wissen, dass ich weiß, wovon ich rede. Ich bin einer von ihnen, war selbst kriminell und habe mich rausgearbeitet.
Sie haben also den Bonus der street credibility. Denken Sie, Lehrer könnten tatsächlich das Gleiche bewirken, auch wenn ihnen diese Glaubwürdigkeit fehlt?
Sie brauchen das Vertrauen der Jugendlichen. Das braucht Zeit.
Im Berliner Stadtteil Wedding haben Sie mit anderen Kindern und Jugendlichen jeglicher Couleur zusammengelebt: Araber, Türken, Kurden, Inder. Alle Nationalitäten querbeet. Denken Sie, dass es deshalb so viel Konfliktpotenzial gab?
Ich glaube nicht. Konfliktpotenzial gibt es in jeder Familie, auch wenn dort alle dieselbe Nationalität haben. Trotzdem ist es natürlich auch so, dass gewisse Nationalitäten spezielle Probleme miteinander haben: Türken mit Kurden, Türken mit Griechen, Araber mit Persern. Alle mit Juden.
Das heißt, unliebsame Religion schlägt unliebsame Herkunft?
Das kann man so sagen.
Es ist heftig, dass Sie mitten in der Hauptstadt sozusagen eine Zielscheibe waren, nur weil Sie Jude sind. In ihrem Buch beschreiben Sie, dass für Sie Religion etwas Mittelalterliches war. Sind sie heute religiös?
Nein.
In Ihrem Buch schreiben Sie, es sei wichtig, zu vergeben. Auch jenen Menschen, die Ihnen den Tod gewünscht haben, die Sie dazu getrieben haben, das Land zu verlassen und nach Israel auszuwandern. Das klingt für mich schon religiös.
Oder philosophisch. Ich sag es mal so: Wenn ich es nicht schaffe, anderen Menschen zu vergeben, wie könnte ich dann abschließen?
Wenn Sie auf Ihr Leben zurückschauen, würden Sie gerne etwas ändern?
Ich bin nicht traurig um meine Vergangenheit, sie hat mich zu dem Mann gemacht, der ich heute bin. Sie – und eine Menge Glück – hat mich dahin gebracht, wo ich heute stehe. Ich erinnere mich an einen Palästinenser, der gemeinsam mit seiner Gang auf mich eingeprügelt hat. Selbst ihn würde ich heute zur Begrüßung in den Arm nehmen. Ich glaube aber, ich würde anders auf meine Geschichte blicken, wenn ich es nicht rausgeschafft hätte. Ein guter Freund von mir ist heute noch auf der schiefen Bahn. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich es rausgeschafft habe: Er wollte mich damals nicht mit auf einen Raubüberfall mitnehmen.
Eine weitere Person, der Sie den Ausstieg zu verdanken haben, ist Ihre damalige Freundin. Haben Sie zu Ihr auch noch Kontakt?
Leider nein. Unsere Beziehung hat es nicht überlebt, dass ich gegangen bin und nie zurückkam.
Sie haben vor diesem Buch bereits zwei Bücher geschrieben. Eines davon heißt "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude" und ist Ihre Autobiografie. Das Buch wurde verfilmt. Würden Sie trotzdem gerne mal anderen Menschen aus anderen Bezirken Ihren Kiez, Ihre Welt zeigen, damit sie das verstehen?
Einen Kiez kann man nicht anhand einer kurzen Kiez-Führung verstehen. Nur wer jahrelang Teil des Kiez ist, versteht ihn wirklich.
Sie haben viel erlebt in Ihrem Leben. Vom Getto zur israelischen Regierung. Vom Graffittisprayer zum liebenden Familienvater.
Ich bin nicht nur älter geworden, sondern habe in den letzten 20 Jahren dreimal so hart gearbeitet wie viele andere, um verlorene Zeit aufzuholen und doch noch erfolgreich zu sein im Leben.
Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft?
Mir liegen zwischenmenschliche Beziehungen sehr am Herzen und ich bin überzeugt davon, dass ich aufgrund meiner Erfahrung mit verschiedenen Kulturen einen wichtigen Beitrag zu Versöhnung und Frieden leisten kann. Zwischen Deutschland und Israel, Juden und Muslimen, und Israel und dem Iran und der arabischen Welt. Traumberuf wäre Botschafter Israels im Iran oder Deutschland zu werden. Doch eine Art „Traumberuf“ übe ich jetzt schon aus, indem ich Bücher schreibe und meine Erfahrungen anhand Anekdoten mit Menschen teile und auf Anerkennung stoße.