Es war so eine schöne Geschichte, die Annalena Baerbock und Robert Habeck erzählt haben. Sie haben sie regelmäßig aufgetischt, seit sie im Januar 2018 ein Grünen-Parteitag erstmals zu den Vorsitzenden der Grünen gewählt hat. Die Geschichte ging so: Die Grünen haben keine Flügel mehr.
Es war eine spektakuläre Geschichte, weil die Kämpfe zwischen den Flügeln jahrzehntelang zu den Grünen gehörten wie Bierzeltreden zur CSU oder Fotos am Currywurststand zu SPD-Chefs. Bis in die 1990er Jahre zerfetzten sich auf Parteitagen und in Fraktionssitzungen im Bundestag regelmäßig radikal-ökologisch-pazifistische Fundis und regierungswillige Realos, danach linke Grüne und Realos.
Jetzt aber, so erzählten Baerbock und Habeck das, stehe die Partei zusammen, weil sie Verantwortung übernehmen wolle für das Land. Übersetzt: Weil die Grünen unbedingt in die nächste Bundesregierung wollten.
Es war eine schöne Geschichte. Wer sich hin und wieder mit Grünenpolitikern unterhielt, wusste immer, dass sie nicht stimmte, dass es zwischen Realos und Linken vielleicht nicht krachte, aber zischelte. Am Donnerstag konnte jede und jeder in Deutschland gesehen, dass die Geschichte von den flügellosen Grünen ein Märchen war.
Die angeblich verschwundenen Flügel der Grünen haben sich erbittert darum gestritten, wer die Ministerien besetzen soll, die der Partei in der entstehenden Bundesregierung mit SPD und FDP zustehen. Genauer gesagt, die Ministerien neben dem Außenministerium, das Baerbock bekommen sollte – und dem Superministerium für Wirtschaft und Klima, das Habeck übernehmen würde. Am Ende ging es um das Landwirtschaftsministerium. Die Positionen, kurz zusammengefasst: Der linke Grünen-Flügel wollte, dass Fraktionschef Anton Hofreiter die Stelle bekommt. Baerbock und Habeck, beide Realos, wollten Ex-Parteichef Cem Özdemir.
Das Ergebnis: Özdemir wird Minister, Hofreiter geht leer aus. Und viele linke Grüne sind stinksauer.
Die Grünen-Chefs Baerbock und Habeck haben den einen Fehler gemacht, den sie nicht machen durften: Sie haben den Flügelkampf innerhalb der Partei nach Jahren des Waffenstillstands wieder eskalieren lassen – und das ausgerechnet jetzt, wenige Tage, bevor die Grünen nach 16 Jahren Opposition wieder Teil einer Bundesregierung werden.
Der Schlamassel um die Ministerposten geht auf Baerbocks und Habecks Kappe, weil sie den Konflikt hätten kommen sehen müssen: Fünf Ministerien haben die Grünen in den Koalitionsgesprächen mit SPD und FDP für sich herausverhandelt.
Dass Özdemir Minister werden wollte, war seit Jahren so offensichtlich wie die Vorliebe Angela Merkels für Kartoffelsuppe. Dass Hofreiter das auch wollte, war bei einem langjährigen Fraktionschef, der sich für die Partei abgerackert hat, logisch. Dass die nach ihrem Selbstverständnis feministischen Grünen mehr Frauen als Männer ins Kabinett schicken würden, war spätestens klar, als die FDP ihre Ministerliste vorgelegt hat, mit drei Männern und einer Frau. Dass im Jahr 2021 jemand mit Migrationsgeschichte auf der Liste sein sollte, muss ihnen – als seit ihrer Gründung erklärtermaßen antirassistischer Partei – ebenfalls klar gewesen sein.
Es würde also schwer werden, möglichst viele Grüne zufriedenzustellen. Das musste den Parteichefs klar sein.
Was Baerbock und Habeck die Aufgabe eigentlich erleichtert hätte: Der türkischstämmige Schwabe Cem Özdemir ist einer der beliebtesten Grünen-Politiker. Bei der Bundestagswahl hat er als erster Grüner der Geschichte in Stuttgart das Direktmandat für seine Partei geholt, rund 40 Prozent der Wähler haben ihm in seinem Wahlkreis die Erststimme gegeben. Darunter etliche Menschen, die mit der Zweitstimme nicht grün wählten.
Und Özdemir ist ein begabter Redner: 2018 faltete er die rechtspopulistische AfD im Bundestag in fünf Minuten so gekonnt zusammen wie kaum ein zweiter, indem er Schlüsselwörter aus der rechten Propaganda wie Heimat und Stolz zu antirassistischen Kampfbegriffen umdeutete.
Baerbock und Habeck haben die Angelegenheit mit den grünen Ministern trotzdem in den Sand gesetzt.
Ein erheblicher Grund dafür war offenbar, dass einige Parteilinke Probleme mit Özdemir haben: wegen seines offensichtlichen Ehrgeizes, wegen seines manchmal harten Umgangstons, wegen seiner Unterstützung für Bundeswehreinsätze im Ausland und ihn nicht haben wollten auf dem Posten des Landwirtschaftsministers.
Es wäre für die Grünen-Chefs nicht leicht gewesen, es besser hinzubekommen. Aber möglich. Habeck hätte verzichten können auf den Posten als Wirtschafts- und Klimaminister, den er selbst beansprucht. Er hätte dieses Ministerium seiner Co-Chefin und Kanzlerkandidatin Baerbock überlassen können. Özdemir hätte an Baerbocks Stelle Außenminister werden können.
Özdemir wäre gut geeignet als Vertreter Deutschlands in der Welt: Er beschäftigt sich seit Anfang der 2000er Jahre mit Außenpolitik, er hat sich mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ebenso angelegt wie mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin. Und was wäre das für ein starkes Signal in die Welt gewesen: Ein Deutscher mit Migrationsgeschichte vertritt das Land in der Welt.
Diese Lösung wäre besonders gut aufgegangen, wenn Parteichef Habeck komplett auf ein Ministeramt verzichtet hätte – um somit Hofreiter, der sich seit Jahren den Mund fusselig redet über den nötigen Wandel in der Landwirtschaft, den Zugriff auf das Landwirtschaftsministerium zu lassen. Habeck hätte an Hofreiters Stelle Fraktionschef im Bundestag werden können. Die Parteilinke wäre zufrieden gewesen.
Und Habeck hätte nach seinem Verzicht auf die Kanzlerkandidatur ein zweites Mal gezeigt, dass er selbst zurückstecken kann, wenn es um das Wohl seiner Partei geht.
Was stattdessen bleibt, ist das Bild eines Machtkampfs, in den die zwei grünen Parteichefs hinein getapst sind. Es bleiben linke Grüne, die jetzt gegenüber dem "Spiegel" sogar die Theorie verbreiten, Baerbock und Habeck hätten in den Verhandlungen mit SPD und FDP absichtlich auf das Verkehrsministerium verzichtet, um Hofreiter nicht ins Kabinett holen zu müssen.
Die schöne Geschichte von den geeinten Grünen ohne Flügelkämpfe ist jetzt jedenfalls unbrauchbar geworden. Baerbock und Habeck werden sie auch nicht mehr erzählen müssen: Nachdem sie als Minister vereidigt sind, müssen sie laut dem Parteistatut als Grünen-Chefs aufhören. Voraussichtlich im Januar wählt ein Parteitag die Frau und den Mann, die ihnen nachfolgen.