Denke ich an den 11. September 2001, sehe ich den Herbsthimmel. Strahlend blau war er an diesem Tag in dem kleinen Ort in Süditalien, 130 Kilometer südlich von Neapel, in dem meine Eltern, mein Bruder und ich damals seit fast zwei Jahren lebten. Eine Goodbye-Deutschland-Familie, Jahre, bevor es die Fernsehsendung gab. Ich war 14 Jahre alt, es war der letzte Dienstag der Sommerferien. Es war eine knappe halbe Stunde nach Simpsons-Zeit: Mittags um zwei kam damals auf dem Privatsender Italia 1 immer eine Doppelfolge der Cartoonserie. Mein Bruder und ich saßen noch vor dem Fernseher in unserer kleinen Wohnküche.
Kurz vor halb vier Uhr schlitterte eine Sonderausgabe der Nachrichten ins Programm. Der Nachrichtensprecher sprach von einem "fatto gravissimo" in New York, einem schwerwiegenden, erschütternden Ereignis. Zwei Flugzeuge seien in die Zwillingstürme des World Trade Center gerast. Dann waren die Bilder zu sehen. Der Himmel war darauf strahlend blau in New York. Und die Türme qualmten wie gigantische Schornsteine einer Fabrik aus den Löchern, die die Flugzeuge in sie gebohrt hatten.
New York war ein Sehnsuchtsort für mich, spätestens seit ich Hip-Hop hörte und die Serie "Friends" anschaute. Ich war nie dort gewesen, dazu hätte das Geld in der Familienkasse niemals ausgereicht. Umso mehr faszinierte mich diese gewaltige Stadt. Wer in New York lebte, der war auf einem ganz anderen Level cool: Von wenig war ich als 14-Jähriger so überzeugt wie davon.
Und jetzt qualmten diese beiden 400-Meter-Türme, die höchsten aller New Yorker Wolkenkratzer. Die zwei Stahlfinger, die man auf jedem Manhattan-Bild sofort erkannte. Im italienischen Fernsehen zeigten sie vor allem Live-Aufnahmen von CNN und Euronews: der Rauch, das Feuer. Und dann diese Nahaufnahmen, aufgenommen aus Hubschraubern. Darauf waren Menschen in den Stockwerken oberhalb der Flugzeug-Einschlagstellen zu sehen, die mit weißen Tüchern winkten. Bilder von Todgeweihten.
Dann krachten die Türme ein, erst der Süd-, dann der Nordturm. Das vordere Manhattan versank in einer Staubwolke, wie in einem völlig überzogenen Katastrophenfilm. Dazwischen kamen die Bilder aus dem Pentagon in Washington dazu, in das ein weiteres Flugzeug gestürzt war.
Ich kam damals nicht mehr los vom Fernseher. Nicht am 11. September 2001, nicht am 12. Ich habe Details aufgesogen, die mich bis heute nicht loslassen: Dass das Video vom Einschlag des ersten Flugzeugs erst am 12. September öffentlich wurde. Dass sich ganz am Anfang der Verdacht gegen radikale Palästinenser richtete. Dass damals Berichte von explodierten Autobomben umgingen. Dass die eingestürzten Türme noch Tage später qualmten.
New York, mein Sehnsuchtsort, war für mich von diesem Tag an nicht mehr nur cool. Sondern auch schwer verwundet. Vielleicht habe ich am 11. September 2001 begriffen, dass beides zusammenpassen kann.
Ich bin heute 34, ein erwachsen gewordener Millennial. Viele Menschen in meinem Alter und darüber verbreiten zum 11. September 2001 eine erschütternde wie einfache Behauptung: 9/11, sagen sie, habe alles verändert, weil damals die 1990er Jahre zu Ende gingen. Eine heitere Zeit, so geht diese These weiter, in der die meisten Leute optimistisch gewesen seien, die unbeschwerten Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, in denen junge Menschen entweder zu Scooter oder Blümchen getanzt hätten, zur Loveparade gepilgert seien oder ihre Langhaarfrisuren zu Sepultura oder Korn durch die Luft geschleudert hätten. Alles vorbei mit 9/11, sagen sie, an diesem Tag habe der tödliche Ernst des 21. Jahrhunderts begonnen.
So ein Quatsch.
Die angeblich so seligen 1990er waren die Zeit, in denen ich – vor unserem Umzug nach Süden – im Urlaub in Italien auf Zeitungstitelseiten Fotos der blutigen Leichen der Opfer der Jugoslawienkriege sah. Als ich neun war, kamen mehrere Geflüchtete aus dem Kosovo und aus Bosnien zu uns in den Fußballverein. Kinder, die in den 1990er Jahren mitten in Europa die Hölle erlebt hatten. Ende der 1990er waren in Deutschland über 4,5 Millionen Menschen arbeitslos. In den Neunzigern steckten Nazis die Wohnheime Geflüchteter in Brand, prügelten dutzende Menschen zu Tode, traten auch bei uns in Bayern dreist in der Öffentlichkeit auf. Ihre Parolen hörte ich auch auf unserem Grundschulhof, immer wieder mal.
1998, im August, hörte ich kurz vor dem Sommerurlaub den Namen Osama Bin Laden zum ersten Mal. Gesprochen über die Nachrichtenbilder der von Terroristen in die Luft gejagten US-Botschaften in Tansania und Kenia.
Wer in den 1990ern groß wurde, war von viel Grausamkeit umgeben. Am 11. September 2001 aber traf uns alle die Grausamkeit wie ein Faustschlag in die Fresse.
Osama Bin Laden wurde zum meistgehassten Menschen, von Seattle bis Schweinfurt. Der islamistische Terror war in unser aller Alltag angekommen.
Es folgten weitere Schläge in die Fresse.
Die Attentate im März 2004 in Madrid, die Bilder der zerfetzten Pendlerzüge, voll mit Menschen auf dem Weg in die Arbeit, zur Uni, zur Schule. Die Attentate auf U-Bahnen und Busse in London, im Juli 2005, das Foto des roten Doppeldeckers mit zerborstenem Dach. Wer diese Bilder als Teenager gesehen hat, wird sie nie vergessen.
Wir wissen seit 9/11, dass Flugzeuge Waffen sein können. Wir können nicht mehr in sie steigen, ohne durch Sicherheitsschleusen zu gehen und unsere Kosmetikartikel in transparente Plastikbeutel zu schließen.
Die Angst hat uns seither nie mehr ganz losgelassen. Die Furcht, dass man selbst – oder ein geliebter Mensch – einmal ein so immenses Pech haben könnte, einmal zur falschen Zeit am falschen Ort sein könnte.
Auch Generationen vor uns sind mit Terror aufgewachsen: die Babyboomer in den 1970ern und 1980ern mit der Angst vor der RAF, mit dem rechtsradikal motivierten Oktoberfestattentat, mit den Bildern neofaschistischer Terroranschläge in Italien. Von den Kriegsgenerationen ganz zu schweigen. Und in Deutschland lebten viele Jüdinnen und Juden, viele Menschen mit Migrationsgeschichte lange vor 9/11 mit der alltäglichen Angst vor antisemitischer und rassistischer Gewalt.
Aber nie vor 9/11 war der Terror so sichtbar. Nie zuvor hat eine Generation so viele Schreckensbilder auf einmal geliefert bekommen, die sich einbrennen konnten ins Gedächtnis.
Wer nach uns Teenager war, hat noch mehr Terror mitbekommen. Wir Millennials haben den 11. September 2001 vor Fernsehen und im Radio verfolgt, in den Tagen danach in Zeitungen und Zeitschriften. Und, wer einen Internetanschluss daheim hatte, auf Online-Nachrichtenportalen.
Die Bilder der zweiten islamistischen Terrorwelle, die Europa anderthalb Jahrzehnte später erreicht hat, kamen zu einem großen Teil von Twitter-Accounts und Facebook-Livestreams. Handyvideos der Attentate von Paris 2015 und Nizza 2016, vom Berliner Breitscheidplatz, aus der Manchester Arena, aus der Würzburger Fußgängerzone.
Was die Flut an Bildern, an Tweets, Posts und Chatnachrichten voller Gerüchte auslösen können, war im Juli 2016 in München zu sehen, nach dem rassistischen Anschlag am Olympia-Einkaufszentrum. Der Täter hätte längst aufgehört zu schießen – und kilometerweit von ihm entfernt sprangen Menschen aus Panik durch Fensterscheiben, weil sie von Schießereien gehört oder gelesen hatten.
Nein, 9/11 hat nicht alles verändert. Aber vieles hat damals begonnen, komplizierter zu werden.