Als Angela Merkel zur Bundeskanzlerin von Deutschland gewählt wurde, war ich zwölf Jahre alt. Als sie aus dem Amt entlassen wurde, war ich 28 Jahre alt. Aufwachsen mit einer Kanzlerin. Was vorher war, hab ich, wie viele meiner Generation, kaum aktiv mitbekommen. DDR, Mauerfall, Wiedervereinigung, Euro-Einführung, Hartz-Reformen: Für uns sind all das Dinge aus dem Geschichtsunterricht, aus Dokumentarfilmen, aus Erzählungen unserer Eltern, aus bunten Kindheitserinnerungen.
Für die Generation vor uns ist das anders. Sie haben die 16-jährige-Kanzlerschaft Helmut Kohls (CDU) zumindest in Teilen miterlebt, genauso wie den Aufstieg und Fall von Gerhard Schröder (SPD). Für sie wird die neue Dokumentation über Altkanzlerin Merkel wie ein Rückblick auf bereits Erlebtes wirken. Für mich allerdings ist der Film von Regisseurin Eva Weber wie ein Zeitraffer: Startend im Jahr 2021 führt der Weg in die Vergangenheit, die 1990er-Jahre und zurück nach 2021.
Dazwischen ein politisches Leben. Und wir.
Denn die Politik von Angela Merkel hat unsere Generation geprägt, wie keine andere. Das ist in diesem Fall wertfrei zu sehen, denn es gab ja keine andere Politik. Die Zeitenwende, die Kanzler Olaf Scholz (SPD) im Februar ausgerufen hat, ist die erste Politikwende, die viele von uns aktiv miterleben.
Umso spannender ist es, den Weg von Angela Merkel, Altkanzler Helmut "Kohls Mädchen", zu verfolgen. Regisseurin Weber verbindet in ihrer neuen Dokumentation "Merkel – Macht der Freiheit" das heute mit dem gestern. Freiheit mit Unfreiheit. Gleich zu Beginn stellt sie Angela Merkel und Ex-US-Präsident Donald Trump direkt gegenüber. Ihre Aussagen zu Mauern, die Staaten und Menschen trennen, schneidet die Regisseurin seinen Ideen einer großen Mauer an der mexikanischen Grenze gegen.
Eine Ouvertüre mit Tempo. Das Publikum wird hineingeworfen in die Debatte über die Werte der freien Welt. In den Streit, was Freiheit bedeutet und wer sie verdient.
Zu Beginn wirkt es an der einen oder anderen Stelle klamaukig. Da ist Merkel, wie sie beim großen Zapfenstreich zu ihrer Amtsentlassung dem Bundeswehr-Corps lauscht, der auf ihren Wunsch Nina Hagen spielt. Eine Sängerin aus der ehemaligen DDR. Was folgt, nach einer Totalen von Merkels Gesicht, ist ein Zoom zurück hinter den Eisernen Vorhang von damals.
Als würden die Zuschauer:innen in Merkels Erinnerungen eintauchen – zumindest soll es wohl so wirken – geht es um das Aufwachsen der Altkanzlerin in der DDR. Eingestreut: diverse Talkshow-Sequenzen aus den 1990ern, in denen Merkel über die DDR spricht. Und ihr Leben. Unterstrichen werden die Aussagen von Filmmaterial. Merkel mit ihren Kommiliton:innen, der Mauerfall, Merkels Mutter, Merkel und Kohl.
Was mit der Dokumentation klar wird: Merkels größter Wert ist die Freiheit. Da ist zum Beispiel die Szene, in der sie sich vom ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama verabschiedet und eine Träne verdrückt. Da sind ihre Zusammentreffen mit Wladimir Putin und Donald Trump. Wie in der ultimativen Chartshow werden alte Weggefährt:innen von Merkel ins Bild gesetzt. Sie ordnen Situationen ein, erklären die Altkanzlerin.
Als nach der Bundestagswahl im September 2021 Merkels letzte Tage als Kanzlerin gekommen waren, hatten viele Polit-Promis erklärt, sie würden Merkels unprätentiöse Art vermissen. In dieser Dokumentation wird deutlich, was sie meinten.
Merkel bleibt im Laufe der Zeit Merkel – obwohl ihr Auftreten selbstsicherer wird, ihr Humor bleibt. Genauso wie die Eigenart, die manch eine:r wohl als trocken betiteln würde. Merkels Mutter nennt das Auftreten ernst. Die Kanzlerin habe sich früh in ihrer politischen Karriere dazu entwickelt, sehr analytisch zu handeln – wenig spontan. Merkel schiebt das auf ihre naturwissenschaftliche Ausbildung.
Außerdem auffällig: Als junge, ostdeutsche Frau wird sie nicht wirklich ernst genommen. Das Frauenbild war ein anderes. Mit heutigem Blick fällt es schwer, die Moderator:innen der 1990er-Jahre nicht schütteln zu wollen und zu fragen 'Samma hackts?'.
Merkel hat nicht reingepasst. Und doch hat sie sich reingearbeitet. Spätestens als sie als Generalsekretärin der CDU den ewigen Kanzler Helmut Kohl nach einer Spendenaffäre aus dem Amt drängt, wird das deutlich. Merkel als CDU-Chefin, Merkel als Kanzlerkandidatin. Merkel als Kanzlerin. In einer Partei, in der, auch das wird offensichtlich, vor allem Männer das sagen haben. Vermutlich auch das ein Parteienübergreifendes Symptom der Zeit.
Was folgt: zahlreiche Gänsehautmomente. Zeitgeschichte eben. Barack Obama an der Siegessäule, Merkel mit Wladimir Putin und dessen Hund, Merkel bei G20-Gipfeln mit einer Horde Alphamännchen, Merkel und Ex-US-Präsident Donald Trump.
Merkel, die die Grenzen für tausende Geflüchtete öffnet. Diese Zeit hat die Regisseurin bilderreich einfließen lassen. So sehr, dass Zuschauenden ein kalter Schauer über den Körper laufen, sich vielleicht sogar eine Träne verirren kann. Denn: Die Menschen haben unglaubliches Leid erfahren. Und die Stimmung in Deutschland ist schnell gekippt. Parolen wie "Ausländer raus" wurden laut, Busse mit Geflüchteten wurden nicht zu den Unterkünften durchgelassen. Brandanschläge folgten.
In diesen Jahren hat Deutschland einmal mehr sein hässliches Gesicht gezeigt. Das alte Gefühl der Ohnmacht kommt zurück. Mittendrin: Merkel. Die Kanzlerin, die die Grenzen öffnete. Die Frau, mit der Geflüchtete Selfies wollen. Die Frau, wegen der CSU-Innenminister Horst Seehofer mit seiner Schwesterpartei brechen wollte.
In Chartshow-Manier bewerten auch hier Politiker:innen und Weggefährt:innen die Entscheidung der Frau, die den Satz "Wir schaffen das" prägte. Und die Menschen, die zur Sprache kommen, die ehemalige US-Außenministerin Hilary Clinton zum Beispiel, oder der frühere Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU), sind Merkel wohlgesonnen. Sie wertschätzen das schnelle Handeln der Kanzlerin.
Insgesamt hat die ultimative Polit-Chartshow nicht viel zu meckern mit der Kanzlerin. Ein:e politische:r Widersacher:in hätte der Dokumentation womöglich gutgetan. Nach 90 merkelesken Minuten habe ich zwar das Gefühl, Merkel besser zu verstehen. Die Zeit, aus der sie kam und die Zeit, in der sie wirkte. Womöglich waren Demokratie, Freiheit und deren Bewahrung tatsächlich Merkels Antrieb.
Und doch ist es mit Blick auf all die Katastrophen, mit denen wir uns heute – in der Nach-Merkel-Ära auseinandersetzen müssen – nicht nur das, was bleibt.
Der Kinostart der Dokumentation "Merkel – Macht der Freiheit" ist der 24. November 2022.