Besonders häufig kommt es nach eigenen Angaben nicht vor, dass ein:e Polizist:in der Bundespolizei von der Schusswaffe gegen Personen Gebrauch machen muss. Bei der Landespolizei sieht es da schon etwas anders aus.
Daten gibt es jedoch nur für Bund und Länder zusammen. 2022 wurde laut der Deutschen Hochschule der Polizei 134 Mal auf Menschen geschossen. Davon 60 Mal auf die Person direkt, der Rest entfällt etwa auf Warnschüsse.
Ingo L. ist einer von ihnen, 2017 musste der ehemalige Bundeswehrsoldat seine Waffe ziehen. Zunächst, weil einer seiner Kollegen außer Dienst mit einem Küchenmesser bedroht wurde, dann um sich selbst zu verteidigen. "Ich habe noch nie so einen Hass in den Augen eines Menschen gesehen, wie in diesem Moment", erzählt der Beamte der Landespolizei Berlin im Gespräch mit watson.
"Es passierte an einem Freitag, morgens gegen 6:45 Uhr. Einem Kollegen außer Dienst wurde der Außenspiegel abgetreten. Als er nach dem Ausweis der Person verlangte und sagte 'Wir warten hier jetzt auf die Polizei', zückte die Person plötzlich ein etwa 30 Zentimeter langes Küchenmesser", schildert Ingo L. den Vorfall.
Daraufhin habe der Kollege Abstand gewonnen und die Polizei verständigt. Ingo L. selbst war zu diesem Zeitpunkt erst seit einem Jahr bei der Polizei im Einsatz. An diesem Tag rückte die Polizei Berlin mit zwei sogenannten Funkwagen, umgangssprachlich Streifenwagen, aus. Ingo L. war der Fahrer des zweiten Wagens – und zuerst an der Einsatzstelle.
Dort sah er die Person mit dem Messer. Ingo L's Stresslevel war hoch, er spricht von einem Tunnelblick, der in dem Moment einsetzte. Sein Kollege, der mit ihm im Funkwagen saß, hat seine Waffe gezogen und den Menschen aufgefordert, das Messer wegzulegen. "Jedes Mal, wenn er das gesagt hat, hat die Person sich zu meinem Kollegen gedreht und etwas Unverständliches in seine Richtung gegrunzt. Was, haben wir nicht verstanden", erinnert sich Ingo L.
Er erzählt weiter: "Der Abstand war relativ groß, ich musste nicht sofort agieren. Doch als ich auf ihn zugegangen bin, ist er mir mit hasserfüllten Augen entgegengekommen. Ich habe für mich wahrgenommen: Er will mich umbringen. Dann habe ich auf ihn geschossen".
Der Schuss ging in den Oberschenkel, die Person fiel zu Boden.
Anschließend kamen Ingo L. seine Kollegen zu Hilfe. Sie traten das Messer weg, legten dem Angeschossenen Handfesseln an und fingen mit der Erstversorgung der Wunde an, bis der Rettungswagen kam.
Vorbereitet auf einen solchen Fall fühlt sich vermutlich bei der Polizei niemand. Die Theorie komme natürlich in der Ausbildung vor, doch im realen Leben auf jemanden zu schießen, sei etwas ganz anderes, beschreibt es Ingo L. Ihm kam zugute, dass er zuvor als Soldat bereits zweimal in Afghanistan im Einsatz war und sich dadurch intensiv mit dem Thema Waffengebrauch auseinandersetzen musste.
Im Einsatz gingen Ingo L. jedoch ganz andere Gedanken durch den Kopf, wie er erzählt: "Im ersten Moment dachte ich, das war's für mich. Ich bin raus." Denn: Zu diesem Zeitpunkt war er noch kein Beamter auf Lebenszeit. Das wird man erst nach drei Jahren im Dienst. Hätte er also einen Fehler gemacht, indem er unrechtmäßig auf die angreifende Person geschossen hätte, hätte er schwerwiegende berufliche Konsequenzen davontragen können.
An alle Details konnte sich Ingo L. aber bereits kurz nach dem Vorfall nicht mehr erinnern. Was er genau zu seinem Angreifer sagte: keine Ahnung. Wie der Fahrzeugschlüssel in seine Hosentasche gekommen war, statt an den dafür vorgesehenen Karabiner: Fehlanzeige. Eine solche periphere Wahrnehmung in Stresssituationen sei vollkommen normal, sagt er.
Doch am Tatort prasselten dann zahlreiche andere Gedanken auf den Polizisten ein. Ingo L. stellte fest, er hatte vergessen in der Eile seine Handschuhe anzuziehen. Blut klebte an seinen Händen. Und Schmauchspuren. Er musste sich also entscheiden: "Riskiere ich, dass ich mich mit etwas infiziere, weil ich selbst eine kleine Wunde an der Hand hatte und lasse dafür die Schmauchspuren für die Spurensicherung bestehen oder wasche ich meine Hände?" Ingo L. wusch sich die Hände.
Dann musste der Verkehr gestoppt werden, der Polizist stellte seinen Wagen quer auf die Straße, sperrte so den Einsatzort ab. Er funktionierte einfach. Doch dass er soeben auf einen Menschen geschossen hat, realisierte Ingo L. sofort. Das Adrenalin fiel nach etwa einer halben Stunde von dem Beamten ab.
Anschließend hieß es für Ingo L.: warten auf das Landeskriminalamt. Denn gegen ihn wurde standardmäßig ab dem Zeitpunkt der Schussabgabe ermittelt.
Ingo L. gesteht: Das war auch mit das Schlimmste, nachdem er realisiert hatte, dass er soeben auf einen Menschen geschossen hat. Er würde gern über das Erlebte sprechen, doch Ingo L. würde diejenigen damit zum Zeugen vom Hörensagen machen. Er durfte also mit niemandem über den Fall sprechen. Mit keinen Kolleg:innen und auch nicht später mit seinem damaligen Mitbewohner.
Ein Kollege durfte trotzdem mit Ingo L. in dem Raum sitzen, in den er nach dem Vorfall gebracht wurde. Er sollte sich um Ingo L's psychisches Wohlergehen kümmern. Denn weiterhin wusste der Polizist nicht: Hat er alles richtig gemacht oder hätte er gar nicht schießen dürfen? "Zu dieser Ungewissheit kamen Gedanken des Schuldbewusstseins. Ich habe mich nutzlos gefühlt. Als würde ich meine Kollegen da draußen im Stich lassen. Die mussten ja noch arbeiten", erzählt Ingo L.
Bei der Landespolizei Berlin gibt es zur Nachsorge eines solchen Falls ein genaues Vorgehen, das einen internen psychosozialen Dienst inkludiert. Normalerweise meldet dieser sich bei traumatisierten Kolleg:innen. Doch Ingo L. hatte sich intensiv in seinem Studium damit auseinandergesetzt und wusste: Die ersten beiden Wochen nach einem traumatischen Ereignis sind die wichtigsten. Denn zu der Zeit kann noch am ehesten eine posttraumatische Belastungsstörung verhindert werden.
Deshalb rief Ingo L. selbst beim psychosozialen Dienst an, schilderte seine emotionale Verfassung, ohne auf den Fall einzugehen. Der Plan zur Nachsorge war dann: Sein Mitbewohner soll in den ersten Tagen etwaige Auffälligkeiten an Ingo L. beobachten, er selbst meldet sich in der ersten Woche nach dem Vorfall täglich beim psychosozialen Dienst, die Woche darauf alle zwei Tage und am letzten Tag sollte es ein längeres Gespräch geben.
Am Freitagabend ging Ingo L. zum Sport. Seine Weise, Stress abzubauen. Auch dort mit niemandem über den Vorfall zu sprechen, fiel dem Polizisten extrem schwer.
Das Wochenende hatte er frei. Er verbrachte es ebenfalls beim Sport und in der Natur. "Den Kopf frei bekommen, Abstand von Menschen gewinnen", sagt Ingo L.
Am Montag erschien er regulär zum Dienst. Er hätte sich sonst geschämt, sagt Ingo L. Der Beamte hatte den Vorfall gut verkraftet, erklärt er. Nicht zum Dienst zu erscheinen, hätte sich gegenüber anderen Kolleg:innen, die ähnliche Vorfälle nicht gut verarbeiten konnten, falsch angefühlt.
Ingo L. betont: "Wir haben in unserem Alltag so viele Erlebnisse, die uns traumatisieren können. Von schweren Verkehrsunfällen, bis zu Todesfällen und dem allgemeinen menschlichen Leid und Elend, das man erlebt. Das kann in der Summe dafür sorgen, dass wir wegen der psychischen Belastung nicht mehr dienstfähig sind."