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Ukraine-Krieg: Expertin berichtet von Leben der Kinder in Kramatorsk

31.07.2025, Ukraine, Kramatorsk: Einheimische betrachten ein durch einen russischen Luftangriff zerstörtes Wohnhaus. Foto: Yevhen Titov/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Ukraine, Kramatorsk: Einheimische betrachten ein durch einen russischen Luftangriff zerstörtes Wohnhaus.Bild: AP / Yevhen Titov
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Ukraine: Olena kümmert sich in Kramatorsk um Kinder – "Feuer in den Augen"

Eine Pädagogin aus Kramatorsk erzählt im Gespräch mit watson, wie sich das Leben der Menschen in der Ost-Ukraine verändert hat. Es ist ein Einblick in einen Alltag voller Pragmatismus, Nächstenliebe und Hoffnung inmitten von Drohnenangriffen.
01.11.2025, 15:5201.11.2025, 15:52

Die Sirene teilt den Tag im Osten der Ukraine in Stücke. Olena Kurtova, Pädagogin aus Kramatorsk, zählt oft nicht mehr mit. "Mehrmals täglich hören wir sie", sagt sie im Gespräch mit watson. "Bei Drohnen hoffen wir auf die Luftabwehr. Wenn Raketen kommen, gehen wir in den Keller." Manchmal rennen die Menschen dann, manchmal gehen sie einfach weiter ihrer Tätigkeit nach. So normal sind die Alarme mittlerweile geworden.

Doch das Auto ist immer vollgetankt. "Für den Fall, dass wir im Notfall sofort loskönnen", erklärt die Ukrainerin gegenüber watson. Angstvoll klingt die freundliche Stimme bei dem Interview am Telefon nicht. "Obwohl es immer öfter Drohnenangriffe gibt." Sie beschreibt einen Alltag inmitten des Krieges, der trotz der Strapazen zur Normalität geworden ist.

Olena Kurtova Ukraine Kramatorsk
Die Pädagogin Olena Kurtova lebt in Kramatorsk im Osten der Ukraine.Bild: Privat

Ukrainerin erzählt von Kindern in Kramatorsk: Leben im Krieg

Kramatorsk, einst Heimat von 150.000 Einwohner:innen, ist die größte noch ukrainisch kontrollierte Stadt im Donbass. In den vergangenen Monaten hat sich der Beschuss wieder intensiviert: Am 30. Oktober trafen russische "Geran-2"-Drohnen die Stadt, ein 82-Jähriger starb, drei Menschen wurden verletzt, elf Wohnhäuser beschädigt.

Am 14. September trafen vier FAB-250 das Zentrum, zerstörten Wohnungen, Schulen, Verwaltungsgebäude.

Aktuell verschärfen sich vor allem die Kämpfe um die Stadt Pokrowsk, die rund 60 Kilometer westlich liegt. Russische Stellen sprechen von einer Einkesselung, die Ukraine widerspricht. Oberbefehlshaber Olexander Syrskyj spricht von einer "komplizierten, aber kontrollierten Lage". Präsident Wolodymyr Selenskyj warnt vor hoher russischer Truppendichte. Gleichzeitig trafen russische Raketen und Drohnen zuletzt ein Wärmekraftwerk in Slowjansk und Wohnhäuser in Sumy und Saporischschja.

Die Front rückt näher – und die Bevölkerung spürt es. "Man lebt in Wellen von Ruhe und Alarm", sagt Olena. "Und dazwischen versucht man, ein normales Leben zu führen."

Olena arbeitet mit Kindern, unterstützt sie therapeutisch mit Kunst und Spielen. Viele erleben bereits den zweiten Krieg nach den Kämpfen 2014 im Donbass. Doch das Leben geht so normal wie möglich weiter. "Sie lachen, spielen, schauen Filme", sagt sie. "Kindheit geht hier weiter – auch im Lärm."

Dabei ist sie immer wieder erstaunt über die Stärke der Kleinen. "Sie sind tough, haben immer noch dieses Feuer in den Augen und sind zuversichtlich, dass alles gut wird", erzählt Olena. Zudem trösten sich die Kinder gegenseitig und wissen, wie sie sich bei Alarm zu verhalten haben.

Children hold hands as they arrive to board a Kyiv bound train, on a platform in Kramatorsk, the Donetsk region, eastern Ukraine, Thursday, Feb. 24, 2022. (AP Photo/Vadim Ghirda)
Kramatorsk: Viele Kinder flüchten aus dem Osten der Ukraine.Bild: AP / Vadim Ghirda

Gehen oder bleiben? Ukrainer ringen um Lebensentscheidung

Über allen Familien schwebt die Frage: Gehen oder bleiben? Olena berichtet, wie sie mit manchen Familien diskutiert: "Es ist besser, das Kind zu retten als das eigene Haus. Ein Haus kann man wieder aufbauen. Ein Kind nicht", sagt sie ihnen häufig. Viele folgen dem Rat, andere harren aus. Diejenigen, die bleiben, unterstützt sie.

Viele harren aus, weil sie keine Alternative sehen. Die Gründe, die Menschen vor Ort nennen, sind vielfältig. Entweder, weil sie keine Kontakte im Westen der Ukraine haben, keine finanziellen Rücklagen, oder weil ältere Familienangehörige nicht mobil sind. Es gibt zwar Evakuierungsteams, die immer bereitstehen, doch viele wollen schlicht nicht.

Das Unbekannte ist beängstigender als die gewohnten Kriegsstrapazen. Andere, wie Olena, halten das Leben vor Ort aufrecht. Ihr Mann arbeitet in der Wärmeversorgung. "Wir werden gebraucht. Deshalb bleiben wir."

Die Einwohnerzahl der Stadt ist deutlich gesunken. Ehemals Heimat von 150.000 Menschen, schwankt die Bevölkerungsanzahl nach Angaben von "Insider.ru" (Stand Oktober 2025) zwischen 53.000 und 80.000 Menschen. Auch das Stadtbild hat sich verändert: Viele Geschäfte geschlossen, zentrale Plätze beschädigt, Unterricht findet digital statt.

Doch jene, die geblieben sind, wirken entschlossen. "Wir leben nicht normal, aber wir versuchen es", sagt Olena.

Ukraine-Krieg bringt ungewisse Zukunft

In diplomatischen Kreisen kursierten zuletzt Berichte, Russland sei bereit, Ansprüche auf Teile von Cherson und Saporischschja fallen zu lassen – im Tausch für den gesamten Donbass und ein Einfrieren der Front. Für die Menschen hier ist das unvorstellbar. Landesweit lehnen laut Kiewer Meinungsforschenden rund drei Viertel der Ukrainer Gebietsabtritte ab.

Die wirtschaftliche Bedeutung der Region macht klar, was auf dem Spiel steht: Kramatorsk ist Zentrum des Maschinenbaus, Slowjansk der Energieindustrie, Pokrowsk war lange Kohleknotenpunkt. Viele Anlagen liegen in Trümmern oder in Minenfeldern. Die Bevölkerung der freien Gebiete im Donbass hat sich binnen eines Jahres nahezu halbiert.

Ein nächster Trump-Putin-Gipfel ist vorerst vom Tisch. China signalisiert Gesprächsbereitschaft, doch konkrete Ergebnisse fehlen. Währenddessen nimmt Moskau systematisch Energieziele in der Ukraine ins Visier. In mehreren Regionen gelten bereits stundenweise Abschaltungen. "Wir bereiten uns auf einen harten Winter vor", sagt Olena. "Decken, Thermoskannen, Kerzen – das gehört jetzt einfach zum Haushalt."

Menschen in der Ukraine: Wärme inmitten der Kriegskälte

Trotz der Strapazen des Krieges, bleibt der Alltag in Kramatorsk geprägt von Solidarität und Anpassung: Cafés öffnen mit Generatoren, Stadtarbeiter flicken Leitungen, wenn die Sirenen schweigen. "Strom fällt aus? Dann wird er wiederhergestellt", sagt Olena. Es gibt Ladestationen, Internetseiten, die ohne Internetzugang funktionieren, Wasserstellen für den Notfall.

Eine weitere Veränderung ist die neue Normalität der psychologischen Hilfe. Während dies früher eher verpönt war, ist es heute ganz normal. "Überall gibt es Werbung für psychologische Hilfe. Menschen schämen sich nicht dafür, sie in Anspruch zu nehmen", erklärt sie.

Dazu kommt die Hilfsbereitschaft: "Wir teilen, was wir haben. Jüngere helfen den Älteren beim Einkauf, Haushalte teilen das Wlan. Man lernt, sich aufeinander zu verlassen." Generell ist dies etwas, das sich durch den Krieg verändert hat. Die Menschen sind sich wohlgesonnen, unterstützen sich, wo sie können. Menschliche Werte seien viel wichtiger geworden.

Aftermath of Russian missile attack in Kyiv s Holosiivskyi district - 09 Jul 2024 Children stand against the backdrop of a destroyed kindergarten and a destroyed five-story residential building in the ...
Für die Kinder in Kramatorsk ist Krieg Normalität.Bild: IMAGO images / Aleksandr Gusev

Wie hoffnungsvoll sie in die Zukunft blickt? "Vielleicht fifty-fifty, dass sich etwas bessert", sagt Olena. Die Hoffnung pendelt zwischen Trotz und Erschöpfung. Hoffnung geben ihr die kleinen bedeutenden Dinge: Hilfsbereitschaft, Wärme, das Lachen der Kinder. "Man lernt, sich an das Leben zwischen Alarmen zu gewöhnen. Und man lernt, einander zu halten." Sorgen macht sie sich weniger um sich selbst als vielmehr um ihre Schützlinge.

Allgegenwärtig ist der Wunsch der Menschen in Kramatorsk nach dem Ende des Krieges. Diese Zukunft malt sie sich so aus: "Dass wir abends einfach wieder rausgehen können. In den Park. In die Stadt. Fotos machen." Dann sagt sie, fast wie ein Versprechen: "Wir wollen zeigen: Kramatorsk ist wunderschön und gehört zur Ukraine."

Die Taschen sind dennoch jederzeit gepackt, das Auto steht bereit. Nur für den Fall der Fälle.

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