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Nah dran
Victor ist 31 Jahre alt. Schon bei den Protesten gegen die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2011 und 2012 demonstrierte er gegen Putin. Auch für Russinnen und Russen ist der Krieg in der Ukraine ein Trauma, sagt er.
13.07.2022, 15:0613.07.2022, 16:43
Ekaterina Bodyagina
"Er hat angegriffen." Mit diesen Worten wurde Victor am 24. Februar 2022 von seiner Frau geweckt. "Ein Schauer durchlief meinen ganzen Körper – mehrere Stunden lang konnte ich nicht aus dem Bett aufstehen und las verzweifelt die Nachrichten."
Plötzlich, erzählt der 31-Jährige, stand die Welt auf dem Kopf. Wut und Angst machten sich breit. "Wut darüber, dass in meinem Namen ein illegaler Krieg geführt wurde, und Angst davor, dass alles, was ich in den letzten Jahren aufgebaut hatte, zusammenbrechen würde."
Victor ist in Moskau geboren und aufgewachsen, hat dort studiert und mehrere Jahre im Ausland gelebt, bevor er zurückkehrte. Das war Mitte der 2010er Jahre, als sich Moskau nach Victors Meinung entwickelte und zum Besseren veränderte. Er wollte an dieser Veränderung teilhaben, hatte dort ein – wie er sagt – cooles Leben: einen Job in einem internationalen IT-Unternehmen, Reisen, Freunde, Familie.
"Alles hat sich an einem Tag verändert, Opa ist einfach verrückt geworden." Opa – damit meint er Putin.
Victor ist nicht der echte Name des Mannes. Die Redaktion hat ihn geändert.
"Am 24. haben die Goldmedaillen ihre Bedeutung verloren – wie auch viele andere Dinge."
Victor hatte nicht damit gerechnet, dass Russland die Ukraine angreifen würde. Als ausländische Kollegen bei Treffen nach den russischen Truppen an der Grenze zur Ukraine fragten, machte er noch Witze: "Ich sagte, die Russen beschäftigt gerade am meisten, dass unserer Eiskunstläuferin Kamila Walijewa die Goldmedaille weggenommen wurde." Doch sein Scherzen währte nicht lange: "Am 24. haben die Goldmedaillen ihre Bedeutung verloren – wie auch viele andere Dinge."
Von Moskau über Istanbul bis in den Nahen Osten – das ist die Fluchtroute von Victor. Seinen genauen Standort will er nicht nennen.Bild: Screentshot: Google Maps / Grafik: Joana Rettig
Er konnte nicht mehr von Russland aus arbeiten – das Unternehmen (den Namen darf Victor nicht nennen) zog sich vom russischen Markt zurück und verlagerte große Teile seiner Belegschaft ins Ausland. Seine Familie wollte oder konnte nicht weg – Victors Frau hat ein eigenes Unternehmen in Russland. Er musste sich entscheiden: gehen oder bleiben? "Ich beschloss, trotzdem umzuziehen, um meinen Angehörigen die Möglichkeit einer Umsiedlung zu geben, falls sich die Lage in Russland noch verschlechtern sollte", sagt er.
Bei der Ausreise an der Grenze wurde Victor nervös – er löschte alle Unterhaltungen, säuberte seinen Computer und sein Telefon. Doch Probleme mit Grenzbeamten blieben aus. Sein Weg führte ihn in die Türkei, Istanbul. Es dauerte vier Tage, bis die Kreditkartenfirmen ihre Dienste für Russen außerhalb Russlands abstellten. Also rannte Victor. Er rannte los, um sein Geld abzuheben. Damit kam er so lange über die Runden, bis die Firma eine Firmenkarte schickte.
"Sie bestrafen in erster Linie diejenigen, die vor dem Regime weglaufen – was soll das bringen?"
Er verstehe die Logik, die hinter einigen der Sanktionen steht, meint er. "Aber diesen Schritt verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht. Sie bestrafen in erster Linie diejenigen, die vor dem Regime weglaufen – was soll das bringen?"
Ein geschlossener Samsung-Store in Moskau. Neben Samsung haben sich viele weitere Technologiekonzerne aus Russland zurückgezogen.Bild: www.imago-images.de / imago images
Alle Projekte, die Victors Team jahrelang in Russland durchgeführt hatte, gibt es nicht mehr. "Was die IT betrifft, wurde Russland um viele Jahre zurückgeworfen", sagte er. Das Kapital sei erheblich geschrumpft, die Technologie verschwunden.
Sony, Nintendo, Apple, Google, Intel, Microsoft, Dell, Samsung, SAP, Fujitsu – alles große internationale Technologiekonzerne, die sich entweder ganz oder in großen Teilen aus dem Land verabschiedet haben. Die russischen Technologien sind geblieben. "Aber IT ist ein Produkt, das international entsteht. Es ist sehr schwierig, sie isoliert zu entwickeln", meint Victor.
Der Kreml hat diese Entwicklung seiner Meinung nach aber noch nicht verstanden: "Das Regime denkt jetzt in wirtschaftlichen Strategien des 19. Jahrhunderts – der Eroberung von Land und Leuten." Das 21. Jahrhundert sei allerdings das Zeitalter der Ideen und der Technologie. "Ein neues Stück Land würde heute keine Aussicht auf Wachstum bieten, während die Technologie dies ermöglichen könnte."
"Ich hatte das Gefühl, dass ich verarscht wurde. Und das Gefühl wiederholte sich im Laufe der Jahre, als ich in Russland lebte."
Victor hat 2011 und 2012 an Demonstrationen teilgenommen – als rund Hunderttausend Russinnen und Russen im ganzen Land gegen die Ergebnisse der Parlaments- und später auch der Präsidentschaftswahlen protestierten. Er hat für alternative Parteien und Kandidaten gestimmt. Er wollte einen Machtwechsel, sagt er.
Doch so weit kam es nicht: "Ich hatte das Gefühl, dass ich verarscht wurde. Und das Gefühl wiederholte sich im Laufe der Jahre, als ich in Russland lebte. Und so furchtbar es auch klingt, ich habe mich daran gewöhnt." Die russischen Behörden würden die Menschen verunsichern, sagt er. "Sie schufen die Illusion von Komfort – insbesondere in Moskau – und nahmen ihnen gleichzeitig ihre sozialen und politischen Freiheiten." Was genau Victor damit meint, lässt er offen.
Er sagt: "Ich bin unter Putin aufgewachsen. Putin ist eine Art Gewohnheit, eine Normalität. Und unsere Eltern waren es auch nicht gewohnt, zu protestieren. Es ist wahrscheinlich erblich bedingt."
2011 protestierten Hunderttausende – vor allem junge Menschen – gegen mögliche Fälschungen bei der Parlamentswahl. Einige wurden festgenommen, wie hier in Moskau. bild: imago images
Victor gibt zu, dass er sich anfangs für die Entwicklungen in der Ukraine verantwortlich fühlte – und er schämte sich. Aber dann beschloss er, dass er sich nicht als kollektiv verantwortlich bezeichnen wollte, weil er diese Regierung oder diesen Krieg nicht unterstützte.
"Dieser Krieg ist ein Trauma für Millionen von Menschen, auch in Russland", sagt er. Kein Vergleich zu den Menschen in der Ukraine, die ihr Leben und ihr Zuhause verloren haben, klar. Vergleichen wolle er das auch nicht. "Ich möchte nur sagen, dass es für viele von uns auch eine Tragödie ist."
Nach einer ereignisreichen Nacht für die deutsche Politik, mit dem Rausschmiss von Finanzminister Christian Lindner (FDP) aus der Ampel und dem daraus folgenden Ampel-Aus, geht es am Donnerstagmorgen direkt weiter.