Ein beschädigtes Haus nach dem Ukraine-Angriff in der Region Kursk.Bild: imago images / sna
Russland
08.08.2024, 17:5408.08.2024, 18:21
Die Ukraine sollte man nicht unterschätzen – das zeigt eine Offensive, die Kreml-Chef Wladimir Putin wohl in Erklärungsnot bringen dürfte: Den ukrainischen Streitkräften gelang es, bis zu zehn Kilometer in die russische Region Kursk vorzudringen.
Der Vorstoß wurde laut Russland erfolgreich abgewehrt; in der Region gilt nun der Ausnahmezustand. Auch erhöht der Kreml den Schutz für das dortige Atomkraftwerk. "Die Region Kursk ist weiterhin mit einer schwierigen operativen Situation in den Grenzgebieten konfrontiert", teilt der geschäftsführende Gouverneur des Gebiets Kursk, Alexej Smirnow, bei Telegram mit.
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Angaben des russischen Gesundheitsministeriums zufolge wurden durch ukrainischen Beschuss im Kursker Gebiet über 30 Menschen verletzt. Davon seien mindestens 19 zur Behandlung in Krankenhäuser eingeliefert worden.
Nach aktuellem Stand sind die ukrainischen Streitkräfte laut "Institute for the Study of War" (ISW) in mindestens zwei russische Verteidigungslinien und eine Festung eingedrungen.
Eine russische Insiderquelle gibt dem ISW zufolge an, dass die ukrainischen Streitkräfte seit Beginn der Operation am 6. August 45 Quadratkilometer Territorium im Gebiet Kursk eingenommen haben. Einige russische Quellen berichten, dass die Ukraine insgesamt elf Siedlungen erobert haben soll.
Ukraine: Kursk-Angriff mit "unklarer" Motivation
"Das ist eine neue Entwicklung", meint Osteuropa-Experte Andreas Umland auf watson-Anfrage. Die Aussage begründet der Analyst des Stockholm Centre for Eastern European Studies damit, dass bisher derartige Übergriffe auf russisches Staatsterritorium von einer Spezialeinheit innerhalb der ukrainischen Streitkräfte unternommen worden seien.
Doch beim jetzigen Vorstoß handelt es sich ihm zufolge um einen Einsatz regulärer ukrainischer Truppen auf russischem Gebiet. Wieso also der Strategie-Wechsel? Für Militärexperte und Oberst a. D. Ralph Thiele bleibt die Motivation der Ukraine "unklar". Selbst das Weiße Haus habe in Kiew nachgefragt. Möglich seien dem ehemaligen Nato-Mitarbeiter zufolge viele Erklärungen:
"Will man die russischen Streitkräfte festnageln? Will man eine Entlastung der verlustreichen Gefechte bei Pokrowsk erzwingen? Will man dem Westen zeigen, dass man noch große Schlachten schlagen kann? Will man ein Tauschpfand für etwaige Waffenstillstandsverhandlungen?"
Sicher sei jedoch: "In jedem Fall ist es ein hochriskanter Ansatz."
Ukraine-Krieg: Angriff in Kursk als "Ablenkungsmanöver"
Das sehen auch andere Beobachter:innen so. "Angriff ist immer mit größeren Verlusten verbunden als Verteidigung, und die personellen Ressourcen Kiews sind im Moment auf ein Minimum beschränkt", schreibt etwa die italienische Zeitung "La Repubblica".
Dennoch geht die Ukraine dieses Risiko ein – Andreas Umland führt dazu vor allem zwei Gründe an.
Ihm zufolge ist die Aktion ein Ablenkungsmanöver zur Bindung russischer militärischer Ressourcen, die ansonsten in der Ukraine zum Einsatz kommen würden. Vorher sei nämlich etwa über einen "möglichen russischen Angriff auf die Region Sumy gemunkelt" worden. Mit ihrer Offensive sei die Ukraine nun Russland zuvorgekommen. Moskau habe "nachlässig die Option eines ukrainischen Bodenangriffs unterschätzt", glaubt auch Thiele.
Zum anderen hat dieser Angriff laut Umland offensichtlich politische Ziele: Er solle die Reputation, Propaganda und Informationspolitik des Kreml in der russischen Bevölkerung untergraben. "Dieser Lapsus dürfte für Putins Ruf innerhalb der russischen Elite problematisch sein", meint der Russland-Experte.
Ukraine-Angriff auf Kursk ist Klatsche für russisches Militär
Der zumindest anfängliche Erfolg des ukrainischen Angriffs veranschauliche noch einmal die "erstaunliche militärische Schwäche" Russlands, sagt Umland. "Dies macht den weiteren Kriegsverlauf für Russland schwieriger, da der Angriff bedeutet, dass Russland künftig mehr Truppen auf eigenem Territorium halten muss, um solche Gegenangriffe zu verhindern", meint er.
Zwar werden die Ereignisse in der Kursker Region laut Umland kaum kriegsentscheidend sein. Sie würden jedoch die populäre Erzählung "von der angeblichen Unbesiegbarkeit und Überlegenheit Russlands" untergraben.
Ein Narrativ, das häufig propagiert werde, um für einen von Russland bestimmten "Frieden" zur Beendigung des Krieges zu argumentieren – inklusive ukrainischer Gebietsabtretungen. "Einige Beobachter scherzen nun, dass Russland zur Bewahrung des europäischen Friedens Gebiete an die Ukraine abtreten muss."
Auch Politikwissenschaftler Carlo Masala witzelt auf der Plattform X: "Vielleicht sollte man den Konflikt jetzt einfach einfrieren." Dazu postet er eine Karte mit dem Vorstoß der Ukraine auf russisches Gebiet.
Putin sollte in Anbetracht der Lage so gar nicht zum Scherzen zumute sein. Er nennt das Geschehen eine weitere schwere "Provokation" durch Kiew.
Kursk-Angriff demonstriert: Ukraine-Krieg ist dynamischer als gedacht
Welche Antwort darauf nun erfolgen soll, lässt Putin offen und verwies auf ein Treffen mit den Sicherheitskräften. Doch auch nach dieser Beratung wurden keine konkreten Beschlüsse verkündet. Es heißt nur, dass es "sehr wirksame" Gegenmaßnahmen geben werde.
Umland vermutet, dass die Ukraine auch in Zukunft nach Schwachstellen entlang der Frontlinie Ausschau halten werde. Auch Thiele glaubt das, fügt jedoch an, dass die Ukraine nicht jedes Mal "so viel Personal und Waffensysteme riskieren" könne. Dafür sei "ihre Personaldecke zu dünn", sagt er auf watson-Anfrage.
Beide sind sich dennoch einig: Russland wird "seine Verteidigungspläne nachbessern", wie Thiele sagt, und "nun stärker in die Befestigung der russisch-ukrainischen Grenze investieren", wie Umland erklärt. Der ukrainische Angriff hat insofern auch strategische Bedeutung: Denn er zeigt der Welt und auch Russland auf, dass der Krieg weiterhin nicht statisch ist.
Daher werde Kiew laut Umland "auch weiter versuchen, mit verschiedenen Mitteln zu verdeutlichen, dass der Verlauf und das Ende des Krieges unvorhersehbar ist und die Annahme einer russischen Übermacht in die Irre führt".
(Mit Material der dpa)
Der Krieg in der Ukraine produziert auch nach zweieinhalb Jahren neue Superlative des Grauens. Als besonders brutal stellen sich immer wieder russische Truppen heraus. Die Vorwürfe reichen von Missbrauch, Entführung von Zivilist:innen und Kindern, bis hin zu systematischer Folter, Vergewaltigung und Mord.