Seit mehr als zwei Jahren hält die Ukraine dem Angriffskrieg Russlands stand. Während sich die Welt momentan im Sportrausch der Olympischen Spiele befindet und noch die Eindrücke der Europameisterschaft verdaut, gehen in der Ukraine die blutigen Kämpfe unaufhörlich weiter.
2024 werde ein "militärisch äußerst schwieriges Jahr" für die Ukraine, schreibt Ukraine-Experte Denis Trubetskoy für das Medium "Table.Briefings". Seiner Einschätzung zufolge sind die Fronten festgefahren.
"In zahllosen Gefechten entlang der knapp 1.000 Kilometer langen Front versuchen die russischen Truppen, die ukrainischen Einheiten aus ihren Positionen zurückzudrängen", beschreibt Militärexperte und Oberst a. D. Ralph Thiele die Lage. Die Russen haben ihm zufolge die vergangenen Wochen und Monate auch genutzt, die ukrainischen Brigaden und deren Kommandeure auf Schwächen hin zu analysieren.
"Sie nutzten derzeit jede sich bietende Möglichkeit, etwa die Rotation von Einheiten, um Erfolge an der Front zu erzielen", führt Thiele auf watson-Anfrage aus. Der ukrainische Generalstabschef Oleksandr Syrskyj konstatierte hierzu kürzlich im "Guardian": "Was die Ausrüstung angeht, so ist das Verhältnis 1:2 oder 1:3 zu ihren Gunsten". Sprich, die Russen sind klar im Vorteil.
Laut des ukrainischen Generalstabschefs hat sich seit 2022 die Zahl der russischen Panzer "verdoppelt" – von 1.700 auf 3.500. Die Artilleriesysteme habe sich verdreifacht, und die Zahl der gepanzerten Mannschaftstransporter sei von 4.500 auf 8.900 gestiegen. "Der Feind hat einen erheblichen Vorteil bei den Streitkräften und Ressourcen".
Leider seien weder die USA noch die Europäer bei der Unterstützung mit Logistik, Material und Nachschub besonders zuverlässig, kritisiert Thiele. Im November stehen die Wahlen in den Vereinigten Staaten an und Ex-Präsident Donald Trump könnte ins Weiße Haus zurückkehren. Mehrere Expert:innen warnen, dass seine Außenpolitik nichts Gutes für die Ukraine verhieße.
Immer wieder spricht sich seine Maga-Anhängerschaft gegen die Unterstützung des angegriffenen Landes aus. Die Abkürzung Maga steht für Trumps Wahlspruch "Make America Great Again" und vereint mittlerweile einen regelrechten Kult aus loyalen Trumpist:innen. Monatelang blockierte die Maga-Anhängerschaft etwa das milliardenschwere Hilfspaket für die Ukraine.
Wartezeit, die in der Ukraine Leben kostet. Auch jetzt muss das Land offenbar wieder ausharren.
Thiele führt aus, dass sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erst kürzlich beklagte, dass bislang mehr als ein Dutzend Brigaden aufgrund von Verzögerungen bei der Lieferung westlicher Waffen unterausgerüstet seien.
Hinzu kommen die schon lange anhaltenden Rekrutierungsprobleme der Ukrainer. "Der Mangel an Truppen ist seit einem Jahr eines der größten Probleme der Ukraine auf dem Schlachtfeld", sagt der Experte.
Vor allem deshalb schaffen es die russischen Streitkräfte, die geschwächten ukrainischen Linien zu durchbrechen: Sie überrollen diese mit Wellen von Bodenangriffen. "Inzwischen rollt zwar Personalersatz an, ist aber wohl längst noch nicht kampftüchtig", sagt Thiele.
Russland hingegen gelinge es bislang, seine derzeitige Personalersatzrate in der Ukraine beizubehalten und damit sein derzeitiges Tempo der Offensivoperationen aufrechtzuerhalten. Laut Thiele erklärt die russische Überlegenheit bei Personal, Waffensystemen und Munition die aktuellen Entwicklungen auf dem Schlachtfeld.
Seit dem vergangenen Herbst seien die Streitkräfte der Ukraine stetig auf dem Rückzug. Der Militärexperte führt aus:
Laut Thiele habe Russland Gebiete nordwestlich von Awdijiwka in Richtung der Garnisonsstadt Pokrowsk eingenommen. Hier liege aus Sicht des ukrainischen Generalstabes derzeit auch der Schwerpunkt der russischen Angriffe.
Die Industrie- und Bergbaustadt liegt in der Oblast Donezk im Osten der Ukraine und wäre ein strategisch bedeutsamer "Gewinn" für das russische Militär.
"Pokrowsk ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt für das Militär und die Zivilbevölkerung im Osten", sagt Thiele. Dazu liege es etwa 25 Kilometer von russisch besetztem Gebiet entfernt und rund 45 Kilometer südwestlich von Dserschynsk. Thiele zufolge versuchen die Russen auf dieser Breite aktuell wohl einen großen Keil zwischen die ukrainischen Verteidigungslinien zu schlagen, um sich südlich der Großstadt Kramatorsk in Stellung zu bringen.
Nach wie vor bleibt wohl der Donbass, mit all seinen Bodenschätzen und Industriestandorten, das Hauptziel der russischen Offensive. Laut Medienberichten und Angaben des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR konzentrieren sich die heftigsten Kämpfe auf diese Region.
Das Fazit von Thiele lautet: "Schritt für Schritt nähern sich die Russen ihren operativen Zielen. Die ukrainischen Streitkräfte vor Ort befinden sich in einer offensichtlich schwierigen Lage."
Laut der US-amerikanischen Denkfabrik "Institute for the Study of War" (ISW) führten die russischen Streitkräfte am 29. und 30. Juli im westlichen Gebiet Donezk fünf mechanisierte Angriffe in der Größe von Platoons bis Bataillonen durch.
Zum Hintergrund: Mehrere Platoons bilden eine Kompanie; ein Bataillon ist ein militärischer Verband aus mehreren Kompanien und kann bis zu 1.200 Soldaten umfassen.
Dem ISW zufolge sind solche lokalisierten Vorstöße wohl Ausdruck der geplanten russischen Sommeroffensive. Den russischen Streitkräften fehlen offenbar die größeren operativen Kapazitäten, um in diesem Sommer eine neue separate Offensivoperation im Gebiet Donezk oder anderswo an der Front durchzuführen, heißt es.
Die kleineren Vorstöße Russlands bezeichnete Generalstabschef Syrskyj im Interview mit dem "Guardian" am 24. Juli als lokale Erfolge. "Taktische" Siege, keine "operativen" Durchbrüche. "Grundsätzlich hat der Feind keine nennenswerten Fortschritte gemacht." Er selbst schließt einen Sieg der Ukraine keineswegs aus.
Es hänge von seinen "widerstandsfähigen und heldenhaften" Einheiten ab, die immer wieder russische Truppen besiegt hatten. Wie etwa der von der Ukraine vereitelte Versuch Russlands, Charkiw und die benachbarte Provinz Sumy einzunehmen. Dennoch gelingt es der Ukraine offenbar nicht, selbst die Initiative an der Front zu ergreifen.
Im Bericht vom 26. Juli schreibt ISW, dass Russland versuche, "den Offensivdruck an der gesamten Front aufrechtzuerhalten". Der Kreml wolle "der Ukraine die Initiative auf dem Schlachtfeld streitig machen" – mit Erfolg.
Ukraine-Experte Denis Trubetskoy zeigt sich pessimistisch. Laut seines Berichts ist mit einer ukrainischen Gegenoffensive in diesem Herbst nicht mehr zu rechnen. Doch ihm zufolge dürfte der Druck auf die Ukraine bald steigen, an der Front wieder die Initiative zu ergreifen. Andernfalls könnten Forderungen laut werden, den Konflikt einzufrieren, führt er aus.
"Was absolut zutreffend ist", meint Thiele. Mit Blick auf mögliche Waffenstillstandsverhandlungen sei die Ukraine gut beraten, die Front zu stabilisieren, um die eigene Verhandlungsposition abzusichern.
Die aktuelle Realität: "Weder die Personal- noch die Materiallage lässt größere ukrainische Offensiven auf absehbare Zeit zu."