Ein Mottowagen mit der Aufschrift "Putins Wahn" zeigt den Anführer der russischen Söldnertruppe Wagner Jewgeni Prigoschin, der auf "Nazis" in aller Welt verweist.Bild: dpa / Federico Gambarini
Russland
Da steht ein Mann mit Glatze. Die Augenlieder sind geschwollen, dunkle Ringe ziehen sich durch das Gesicht. Er stützt sich mit den Händen in seiner Camouflage-Schutzweste, der Blick: ungerührt. Er spricht in die Kamera und fordert ... Humanität.
Es ist ein seltsames Schauspiel: Jewgeni Prigoschin, der Chef der brutalen Wagner-Gruppe – berüchtigt für Vergewaltigungen, Massenmorde und Folter. Und er schaut in die Kamera und verlangt von Wolodymyr Selenskyj, dem Präsidenten der Ukraine, dass er Ältere und Kinder aus einem Vorort von der noch immer umkämpften Stadt Bachmut "entlässt".
Das Video wurde im März 2023 veröffentlicht.
Ein Screenshot aus dem Video, in dem Jewgeni Prigoschin Selenskyj persönlich anspricht.Bild: IMAGO / ITAR-TASS
Jewgeni Prigoschin, auch bekannt als "Putins Koch", war lange Zeit eher im Hintergrund der Wagnergruppe aktiv.
Doch in den vergangenen Monaten wuchs nicht nur das öffentliche Interesse am Wagner-Chef, auch seine selbst initiierte Medienpräsenz stieg an. Was könnte das bedeuten?
Exekution: "Der Tod eines Hundes"
Neben der Teilmobilisierung des Präsidenten Putin im September, rekrutierte auch Prigoschin – und zwar in Straflagern für Schwerkriminelle. In einem Video ist er zu sehen, wie er den Gefangenen ein Angebot macht: Kommt mit, kämpft für Russland – wenn ihr überlebt, seid ihr frei.
Allerdings gibt es einen Zusatz: Habt ihr euch einmal entschieden, gibt es kein Zurück. Solltet ihr einen Rückzieher machen, werdet ihr exekutiert.
Für den Russland-Experten Nikita Gerasimov ist klar: Damit provozierte Prigoschin auch in Russland eine Debatte über die Angemessenheit dieser Vorgehensweise. "Die einen warfen ihm vor, de facto 'Strafbataillone' aus der Sowjetzeit im übelsten Sinne aufzustellen. Die anderen sahen darin für jedermann die Chance, 'seine Schuld vor Russland mit Blut zu begleichen'."
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Der Politik-Analyst Andreas Umland sagt zudem, dass man mit der Rekrutierung in Straflagern die Interessen des Kreml verfolge. "Kämpfer zu haben, die nicht aus der normalen Bevölkerung kommen, aber trotzdem elementare Disziplin haben und tatsächlich kämpfen. Das ist eine Art Dienst für den Kreml und bedeutsam, weil die Mobilisierung unpopulär war und ist."
Eine Exekution sei ein reines Disziplinierungsinstrument, ein Zeichen an die eigenen Truppen.
Ein Präzedenzfall ließ nicht lange auf sich warten: Jewgeni Nuschin wurde im Sommer als Söldner rekrutiert. Im September hatte er sich allerdings der ukrainischen Armee ergeben. Doch er gelangte wieder in die Fänge seiner ehemaligen Wagner-Kameraden. Sie erschlugen ihn daraufhin mit einem Vorschlaghammer.
Wagner-Chef Prigoschin sagte daraufhin: "Ein Hund empfängt den Tod eines Hundes."
Der Vorschlaghammer, erklärt Gerasimov, wurde zu einem Symbol, wenn nicht gar einer Marke der Wagner. "Verräter" würden damit getötet, "Helden" damit geehrt. Laut Gerasimov legen die Wagner am Grab von Gefallenen nicht selten einen mit Namen signierten Vorschlaghammer zurück.
Er führt aus:
"Genau an diesem Bild arbeitet Prigoschin höchstpersönlich und formuliert es auch genauso in seinen Interviews. Videos von Hinrichtungen werden vom Trupp selbst veröffentlicht und von Prigoschin kommentiert. Er will, dass der Trupp genauso gesehen wird."
Solche Bilder kommen in der russischen Kriegsdebatte an. Wie Gerasimov erklärt, dass mobilisierte junge Männer regelrecht darum betteln, zur Wagner-Gruppe kommen zu dürfen, statt in die bürokratisierten und undurchsichtigen Strukturen des Verteidigungsministeriums. Mit einer solchen Basis kann es sich Prigoschin leisten, selbst höchste Machtstrukturen zu kritisieren oder sie gar öffentlich zu beschimpfen.
Streit mit Minister: Mittel zum Zweck oder Verräter?
Erst hatte Moskau Prigoschin die Möglichkeit genommen, weiter in Gefängnissen zu rekrutieren, dann soll das Verteidigungsministerium Munition zurückgehalten haben. Mitte März knarzte es mächtig zwischen Prigoschin und dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu.
Über diesen Kampf wird viel spekuliert. "Manche halten das für orchestriert, andere für überinterpretiert", meint Gerasimov. Er persönlich nimmt an, dass es diesen Machtkampf tatsächlich gegeben hat – und Prigoschin ihn gewonnen hat.
Das werde jetzt für Putin zum Problem, erklärt Umland. "Die Wagner-Gruppe ist ein Überbleibsel aus der Zeit der hybriden Kriegsführung, sowohl in der Ukraine, aber auch in anderen Regionen der Welt."
Umland meint, Prigoschin hat ein gutes, besonderes Verhältnis zum Kreml-Chef. So hätten die Wagner-Söldner eine Sonderrolle inne. "Vom Catering über die sogenannte Internet Research Agency, also eine Troll-Armee, bis hin zur Söldnertruppe. Es gibt verschiedene Dienstleistungen, die Prigoschin Putin zur Verfügung stellt und die Verbindungen schaffen – an allen staatlichen Hierarchien vorbei."
"Lasst sie frei" – der Chef zeigt sich gütig
Zum orthodoxen Osterfest veröffentliche Prigoschin auf seinem Telegram-Kanal ein Video, in dem er höchst persönlich den Befehl gibt, Kriegsgefangene freizulassen.
Wagner-Söldner lassten ukrainische Kriegsgefangene am orthodoxen Osterfest frei.Bild: screenshot / Telegram/Prigoschin Offenbar kam das intern nicht so gut an. Das meint zumindest Gerasimov:
"Die Entscheidung Prigoschins über die Freilassung von ukrainischen Gefangen zum orthodoxen Osterfest wurde in der russischen Kriegsdebatte eher als eine Schwäche wahrgenommen, vermutlich das erste Mal. Prigoschin gilt in Russland als ein 'harter Mann für grobe Angelegenheiten'."
Doch vielleicht war das Video auch nicht dazu gedacht, Pluspunkte in Russland zu sammeln. Umland meint, es sei auch wahrscheinlich, dass sich Prigoschin damit profilieren will: "Als eine Art Taube, mit der man Verhandlungen führen kann. Als eine Art Gesandter in einem zweiten Verhandlungsstrang neben den offiziellen Kanälen." Aber auch hier könne man am Ende nur spekulieren.
Defensive siegt? Der Ratgeber des Militärs
Kürzlich veröffentlichte das Institute for the Study of War einen Bericht und schreibt, Prigoschin könne versuchen, Putin von einer defensiveren Kampfstrategie zu überzeugen. Hintergrund soll die angekündigte ukrainische Gegenoffensive sein. Russland müsse sich "so verankern, dass es nur möglich ist, die russischen Streitkräfte mit den Klauen des Gegners herauszureißen", zitiert das Institut Prigoschin.
Kann er sich so viel herausnehmen? Gerasimov meint: "Mittlerweile kann es sich Prigoschin leisten, 'Strategie-'Tipps' an das Verteidigungsministerium zu geben. Denn: Sein Trupp rückt vor, während reguläre Armeeeinheiten stocken."
Jewgeni Prigoschin fürchtet sich offenbar vor der ukrainischen Gegenoffensive.Bild: AP / Uncredited
Prigoschin traue sich, Sachen anzusprechen, bei denen sich selbst hartgesottene russische Kriegsreporter zurückhalten, um nicht wegen "Diskreditierung der Armee" angeklagt zu werden.
Umland meint hingegen: "So viel Meinungsfreiheit gibt es in Russland schon noch: Solange man die allgemeine politische Richtung nicht in Frage stellt, kann auch öffentlich und kontrovers diskutiert werden." Nichts anderes mache Prigoschin. "Hinzu kommt: Wenn Russland diesen Krieg verliert, ist das auch seine Niederlage."
Und jetzt? Geht Prigoschin in die Politik?
Das wird kontrovers diskutiert. Die Experten Umland und Gerasimov sehen keinen Schritt in die Politik.
Politische Ambitionen könne man erkennen, meint Umland. Allerdings wisse man nicht mit Sicherheit, ob das auch zu einer eigenen politischen Dynamik wird. "Prigoschin ist eher ein Mann der zweiten Reihe. Vielleicht wird er bei einer Partei landen, wenn er denn überhaupt in die Politik geht."
Gerasimov meint, das Thema der politischen Ambitionen von Prigoschin sei in vielen Hinsichten eine Deutungssache. Doch: "Prigoschins öffentliches Auftreten spricht eher dagegen, dass er reale politische Ambitionen im Sinne der Erlangung eines politischen Amtes hat. In seinen Aussagen stellt er permanent seine Abneigung, fast schon Ekel, gegenüber 'wichtigen Leuten in großen Kabinetten' zur Schau."
Sollte er am Ende doch ein politisches Amt erlangen, meint Gerasimov, "wäre das ein totaler Bruch in der Selbstdarstellung".