Der SPD-Politiker Stephan Weil ist bei der Landtagswahl in seinem Amt als Ministerpräsident bestätigt worden.Bild: IMAGO/Frank Ossenbrink / imago images
Vor Ort
10.10.2022, 07:1610.10.2022, 11:40
"Fünf, vier, drei, zwei, eins", zählt die ganze Gesellschaft im Capitol die Sekunden herunter, bis es endlich 18 Uhr ist. Im Konzerthaus im Szeneviertel Hannover-Linden feiert die niedersächsische SPD an diesem Abend ihre Wahlparty. Um 18 Uhr soll es die ersten Prognosen zum Wahlausgang geben. Doch die ARD zögert einige wenige Sekunden. Ein älterer Herr hält es kaum aus: "Nu' mach schon", schimpft er.
Und dann: Freude. Erleichtert und zufrieden klatscht er in die Hände. Und alle im Saal tun es ihm gleich. Die Genossen jubeln lautstark. Sie haben gewonnen, mit klarem Abstand zur CDU. Ihr Ministerpräsident Stephan Weil, der bereits seit 2013 der niedersächsische Landesvater ist, wird diesen Job eine weitere Amtszeit innehaben.
Mit der vorläufigen Prognose des Ergebnisses der Grünen wird der Applaus im Capitol sogar noch lauter. Die Stimmung noch heiterer. Es sieht so aus, als würde es für ein rot-grünes Bündnis reichen. Die Wunschkoalition der Sozialdemokraten.
Auch die Vorsitzende der Jusos Niedersachsen, Ronja Laemmerhirt, ist sichtlich erleichtert. Acht Monate habe sie als Vorsitzende auf diesen Tag hingearbeitet. In den vergangenen acht Wochen habe sie 14 Stunden am Tag für die Wahl geackert. Für Laemmerhirt selbst hat es nicht gereicht – das sei aber auch keine Überraschung, denn dafür war ihr Listenplatz zu weit unten.
Ronja Laemmerhirt ist die Co-Vorsitzende der Jusos Niedersachsen.Bild: watson / rebecca sawicki
Trotzdem hat Laemmerhirt auch Straßen-Wahlkampf gemacht:
"Viele Jusos sind in Wahlkreisen angetreten. Wir haben einen eigenen Juso-Bus, mit dem bin ich in den vergangenen Wochen 7000 Kilometer durchs ganze Land gefahren, um jede:n zu unterstützen."
Nun sei die Juso-Vorsitzende aber froh, dass die Wahlkampfzeit vorbei ist und die Anspannung abfällt. "Ich bin kaputt", gibt sie zu. Es sei daher Fluch und Segen, dass ihr Zug in ihre Wahlheimat Bremen bereits um 23:30 Uhr fährt.
Bis dahin ist aber sicherlich noch Party angesagt. Wie beim Rest der Partei. Schon um 19 Uhr sind die ersten 200 Liter Bier getrunken. Ähnlich feucht sieht es bei der CDU aus. Wenn gleich weniger fröhlich. Um 20 Uhr sind viele der Weinflaschen in der königlichen Reithalle Cavallo in Hannover-List bereits geleert. In der Halle ist es sehr viel leiser als im Capitol. Die CDU-Niedersachsen ist enttäuscht.
Gedrückte Stimmung auf der Wahlparty der CDU
Die Christdemokraten warten auf ihren Vorsitzenden. Auf ihren Kandidaten für den Posten des Ministerpräsidenten. Auf Bernd Althusmann. Der hat bereits bei Verkündung der ersten Prognosen erklärt, von seinem Posten als Parteichef zurückzutreten. Auch der Vorsitzende der niedersächsischen Jungen Union, Christian Fühner, ist enttäuscht.
Im Gespräch mit watson sagt er:
"Das einzig positive, heute Abend, ist, dass ich meinen Wahlkreis mit 50 Prozent der Stimmen gewonnen habe. Ich habe den größten Respekt für Bernd Althusmann und seine Entscheidung zurückzutreten. An ihm hat es nicht gelegen, das möchte ich klar sagen."
Trotzdem könne es kein "weiter so" nach einer solchen Wahlniederlage geben. Zum Zeitpunkt des Gespräches ist Fühner noch in seinem Wahlkreis, später am Abend wird aber auch er nach Hannover kommen. Denn bereits am Tag nach der Wahl wird es in der Landesvorstandssitzung darum gehen, wie es in Zukunft weitergehen soll mit der CDU Niedersachsen. "Wir werden über eine Neuaufstellung beraten – auch eine personelle", sagt Fühner.
Für ihn wird es im Landtag weitergehen, allerdings in der Opposition. "Das wird eine neue Herausforderung und ich hätte mir natürlich gewünscht, zu regieren", sagt er. Aber man könne nun nichts daran ändern. Es werde weitergehen. So ähnlich fasst es auch Althusmann in seiner Rede zusammen, als er um 20:55 Uhr die Bühne in der königlichen Reithalle betritt. "Ich verspreche euch, morgen wird die Sonne wieder scheinen", sagt er.
Bernd Althusmann erklärt noch am Wahlabend seinen Rücktritt als Parteivrositzender der CDU Niedersachsen.Bild: dpa / Hauke-Christian Dittrich
Er wolle nichts schönreden, erklärt er. Denn: Die Partei habe ihr Wahlziel nicht erreicht. Weder habe die CDU den Regierungsauftrag der Wählenden bekommen, noch sei es gelungen, rot-grün zu verhindern. In Althusmanns Rede klingt es, als sei eine Koalition aus SPD und Grünen, das Schlimmste, das dem Land passieren könnte. In Zeiten der Krise sei diese Kombination "keine geeignete Perspektive für die Zukunft", sagt er. Und seine Parteifreund:innen klatschen lautstark.
Althusmann wolle sich aber auch ehrlich machen, sagt er: "In der Krise scheint es offensichtlich so zu sein, dass die Wählenden sich an den Amtsinhaber klammern." Nach den Herbstferien werde es darum gehen, dass sich die CDU Niedersachsen neu aufstellt – ohne Althusmann als Vorsitzenden. Erhalten bleibe er der Partei dennoch. "Ich habe meinen Wahlkreis mit klarer Mehrheit gewonnen", sagt er.
Grüne Jugend will als kritisches Korrektiv agieren
So sehr es der CDU vor einer rot-grünen Regierung graust, so sehr freut sich die Vorsitzende der Grünen Jugend, Pia Scholten, über die Möglichkeit. Sie erklärt am Telefon:
"Ich habe ein ambivalentes Gefühl an diesem Abend. Ich freue mich sehr, dass es so aussieht, als würde es für rot-grün reichen. Die CDU ist abgewählt, mit dem schlechtesten Ergebnis seit gefühlt immer. Was mich aber bestürzt, ist das Ergebnis der AfD. Das ist ein Auftrag für alle demokratischen Parteien, zusammenzuarbeiten und soziale Antworten zu finden."
Die Grüne Jugend werde die Koalitionsverhandlungen sehr genau beobachten, denn für Scholten ist klar: Auch mit der SPD wird es Probleme geben. "In der Groko hat sich die SPD nicht nur mit Ruhm bekleckert, wenn man beispielsweise an das niedersächsische Polizeigesetz denkt", sagt Scholten. Durch dieses Gesetz hat die Polizei mehr Eingriffsrechte – und kann so einfacher Präventivschläge ausüben. Scholten erklärt: "Mit uns wird es keinen weiteren autoritären Umbau geben."
Sie selbst wird nicht im Landtag sitzen. Die Landessprechenden der Grünen Jugend sehen ihren Platz an der Seitenlinie. "Wir wollen das Regierungshandeln kritisch beobachten", sagt Scholten. Und natürlich auch die Opposition im Blick haben, denn so wie es an diesem Abend aussieht, besteht die aus CDU und AfD. Die FDP hat es nach den ersten Hochrechnungen nicht in den niedersächsischen Landtag geschafft.
Liberale müssen weiter zittern
Für die Vorsitzende der Jungen Liberalen, Nadin Zaya, ist das eine "herbe Enttäuschung". Trotzdem will sie die Fassung behalten. Für Zaya ist klar, dass im Wahlkampf der Fokus auf die falschen Themen gelegt wurde. Es habe eine inhaltliche Verengung gegeben – trotz Abwärtstrend auf Bundesebene. Jugendpolitik und innovative moderne Themen hätten gefehlt, stattdessen habe sich der Wahlkampf auf das Atomkraftwerk im Emsland bezogen.
Zaya macht im Telefonat mit watson klar: Nun braucht es eine personell-strukturelle und eine inhaltliche Debatte. Es würde nicht reichen, einfach das Personal auszutauschen. Stattdessen brauche es eine Neuaufstellung. "Reformen müssen angestoßen werden", sagt sie. Bis zum amtlichen Endergebnis werden die Liberalen zittern müssen, ob es mit dem Einzug in den Landtag geklappt hat, oder nicht.
Die AfD hingegen kann an diesem Abend einen Sieg feiern. Knapp elf Prozent hat die Partei laut Hochrechnungen geholt. Die Party allerdings findet außerhalb von Hannover statt – in der Stadt selbst, hat die Partei keine Halle gefunden.
Vorläufiges Endergebnis
Die Partei von Ministerpräsident Stephan Weil erhielt laut dem vorläufigen amtlichen Endergebnis am Montagmorgen schließlich 33,4 Prozent der Stimmen. Die CDU fuhr mit 28,1 Prozent ihr schlechtestes Wahlergebnis in dem Bundesland seit 1955 ein.
Die FDP schaffte es mit 4,7 Prozent nicht, in den Landtag einzuziehen. Die Linken scheiterten mit 2,7 Prozent wie schon 2017 ebenfalls an der Fünfprozenthürde. Die AfD kommt auf 10,9 Prozent. Auch die Grünen gewannen hinzu und wurden mit 14,5 Prozent der Stimmen drittstärkste Kraft. Damit sind im Landtag in Hannover künftig nur noch vier Parteien vertreten: SPD, CDU, Grüne und AfD.