Am Anfang ist es wie in einer Schulklasse. In einer sehr braven Schulklasse. Punkt 9.30 Uhr öffnen sich die zwei Flügel der Holztür am Eingang von Schloss Bellevue, heraus kommen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender. Sie gehen ein paar Stufen auf der Treppe hinunter, drehen sich nach links, nach rechts, zu den Dutzenden jungen Menschen, die hier heute stehen. Alle sind zwischen 16 und 24 Jahre alt, alle tragen eine Mund-Nase-Bedeckung. "Guten Morgen!" ruft der Bundespräsident. "Guten Mooorgen", rufen die jungen Menschen zurück.
150 Jugendliche und junge Erwachsene sind an diesem warmen Berliner Herbsttag in den Amtssitz des deutschen Staatsoberhaupts gekommen, für die Aktion "Takeover Bellevue". Sie sollen Schloss Bellevue übernehmen, für ein paar Stunden – dieses Bild wollen Steinmeier, Büdenbender und das Bundespräsidialamt vermitteln.
Aus der Aktion sollen Vorschläge entstehen, was sich im Land ändern müsste. Für die Umsetzung, das gehört zur politischen Wahrheit, ist der Bundespräsident aber gar nicht zuständig. Er repräsentiert den Staat, er setzt Themen auf die Agenda, er kann Gesten und Symbole in die Welt schicken, er setzt die letzte Unterschrift unter Gesetze. Aber die Entscheidungsmacht liegt bei Regierung und Parlamenten in Bund und Ländern.
Trotzdem: Eine solche Aktion, sagt eine Sprecherin des Präsidialamts, habe es noch nie gegeben. Die 150 Menschen aus unterschiedlichen Teilen Deutschlands sollen in acht Gruppen Ideen entwickeln: zu acht Themen, die sie, so heißt es, vorher selbst ausgesucht haben. Solidarität ist eines, die Klimakrise ein anderes. Steinmeier wolle jungen Menschen "eine Bühne für ihre Anliegen und ihr Engagement" verschaffen, heißt es. Junge Menschen sollten "mitgestalten im Herzen der Republik" – und zwar genau jetzt, in diesem hoffentlich letzten Herbst der Corona-Krise, in dem "das Ende der Pandemie in Sichtweite gerät".
Eine Teilnehmerin ist Sara Ismail. Sie ist 21 Jahre alt, aus dem nordrhein-westfälischen Recklinghausen. Vor gut fünf Jahren lebten sie und ihre Familie noch in Syrien. Dann flüchteten sie vor dem Bürgerkrieg. Ismail ist ausgebildete biologisch-technische Assistentin und macht gerade ihr Abitur, um studieren zu können. Sie ist Teil der Gruppe, die Vorschläge zur Bildung macht: dazu, wie sich Hindernisse aus dem Weg räumen lassen, die manchen Schülerinnen und Schülern, Studierenden, Auszubildenden heute den Weg versperren.
Ismail hat, zusammen mit einer Handvoll anderer Teilnehmender, eine Untergruppe gebildet, sie ist eine der beiden Koordinatorinnen dieser Untergruppe. "Individuelle Bildung" lautet ihr Schwerpunkt. Sie sammeln Ideen und erarbeiten Vorschläge dazu, wie in Schule und Ausbildung besser auf die Persönlichkeit jedes einzelnen Menschen eingegangen werden soll. Den Jetzt-Zustand an den Schulen in ihrer Heimat Nordrhein-Westfalen beschreibt Sara Ismail so: "Wir werden als Roboter gesehen, nicht als Menschen."
Die zweite Koordinatorin der Untergruppe "individuelle Bildung" ist Elena Koch, 16 Jahre alt, Elftklässlerin in einem Gymnasium in Krefeld, ebenfalls Nordrhein-Westfalen. Das Bildungssystem, meint sie, sei "sehr veraltet". Lehrerinnen und Lehrer würden im Studium nicht darauf vorbereitet, auf die unterschiedlichen Lebenslagen ihrer Schüler einzugehen: auf spezielle Interessen, auf psychische Probleme.
Wie sich das bessern soll? Ismail meint, es brauche mehr Projekte im Unterricht, die auf das Berufsleben vorbereiten. Koch fasst ihren Wunsch so zusammen: "Weniger Gedichtanalysen, mehr darüber, wie man eine Steuererklärung macht." Beide, Ismail und Koch, wissen, dass sie hier nur Vorschläge machen können, dass über Schulen und Universitäten in Deutschland vor allem Landtage und Landesregierungen entscheiden. Aber Ismail sagt auch: "Ich hoffe, dass sich was verändert." Deswegen sei es wichtig, dass viele Medien über "Takeover Bellevue" berichten.
Das wünscht sich natürlich auch Frank-Walter Steinmeier. Er will, dass möglichst viele Menschen diese Bilder sehen: vorne der Bundespräsident und seine Frau, hinter und neben ihnen 150 junge Menschen. Der oberste Mann im Staat stellt sich vor die Jugend, das ist die Botschaft, die Steinmeier hier inszeniert. Nachdem er seine Gäste begrüßt hat, blinzelt der Bundespräsident in den wolkenlosen Berliner Himmel und beginnt seine Rede. „Generation Corona, diesen Stempel haben viele junge Menschen sich in den letzten anderthalb Jahren aufdrücken lassen müssen", meint er und ergänzt: "Aber Sie, die junge Generation, lassen sich nicht abstempeln und nicht ausbremsen."
Steinmeier nennt Beispiele jungen Engagements in der Krisenzeit: Schüler, die Geflüchteten nach den Stunden im Homeschooling Nachhilfe angeboten hätten. Chemiestudierende, die im Frühjahr 2020 in ihrer Freizeit Desinfektionsmittel zusammengerührt hätten, als es überall knapp wurde. Gegen Ende seiner Rede gibt sich der Präsident mitfühlend. Er sagt: "Unser Land darf nicht vergessen, was Corona für Sie bedeutet. Ausgerechnet in den schönsten Jahren, ausgerechnet beim Start ins Leben, hat die Pandemie Sie hart getroffen."
Dann gehen Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender zurück ins Schloss und nach oben, in einen der Säle in Bellevue. Dort sitzen ein paar der Arbeitsgruppen. Kurz nach 10 Uhr gehen Steinmeier und Büdenbender zu dem Tisch, an dem Sara Ismail und Elena Koch mit drei anderen über ihren Ideen für ein individuelleres Bildungssystem brüten.
Der Präsident und die First Lady nehmen ihre FFP2-Masken ab, lächeln die Teilnehmenden an, lassen sich die Ideen erklären, die sie in Wörter gefasst und an eine Pinnwand geheftet haben. Acht Minuten lang stehen die beiden neben Sara Ismail und Elena Koch. Ismail berichtet später, der Präsident habe ihr gesagt, dass das Thema wichtig sei und die Vorschläge der Gruppe weitergeleitet werden müssten.
So weit, so schön die Bilder. Aber was wird dieser Tag bringen außer Imagepflege für das Staatsoberhaupt?
Es sind besonders politisch interessierte Menschen, die an diesem "Takeover" teilnehmen, niemand wird gezwungen. Ein Querschnitt der gesamten Bevölkerung zwischen 16 und 24 kann es schon deshalb nicht sein. Die ganze Aktion hat das Bundespräsidialamt mit drei Stiftungen organisiert, der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS), der Hertie-Stiftung, der Zeit-Stiftung. Eine Kerngruppe von 50 Teilnehmern kommt von der DKJS. Diese Kerngruppe, so heißt es aus dem Präsidialamt, habe dann die anderen Teilnehmenden ausgewählt – und habe dabei darauf geachtet, dass sie motiviert seien und ein möglichst breites Bild der Gesellschaft abbildeten.
Präsident Steinmeier hat sich immer wieder als Fürsprecher junger Erwachsener präsentiert, in den über anderthalb Jahren seit Beginn der Pandemie. Im April 2020 hat er eine Ansprache an Familien und junge Menschen gehalten, im Juni 2020 hat er Auszubildende zu einer Gesprächsrunde gebeten. Im April 2021 hat er Studierende zu einer eine Rede zum Semesterbeginn eingeladen, über die der watson-Autor und Student Leonard Frick später mit Blick auf Steinmeier schrieb: "Wenigstens schafft er Aufmerksamkeit für die vielen Probleme, mit denen wir derzeit zu kämpfen haben."
Heute spricht Steinmeier auch Worte in Richtung derjenigen, die gerade ein paar Kilometer weiter südwestlich Koalitionsgespräche führen. Er sagt: "Sie, die Jungen, waren in der Pandemie solidarisch mit den Älteren. Jetzt liegt es an den Älteren, solidarisch mit Ihnen zu sein. Und das bedeutet konkret: Sie verdienen eine Politik, die die Zukunft offen hält. Ihre Hoffnungen und Ihre Fragen gehören auf die politische Agenda unseres Landes." Und er meint: "Eine zukünftige Bundesregierung wird Antworten auf die Fragen finden müssen, die Sie schon gestellt haben und im Verlauf des heutigen Tages noch weiterbearbeiten werden."
Am Ende dieser Bearbeitung hat jede der acht Gruppen einen Bühnenauftritt, in einem Zelt im Park von Schloss Bellevue. Es ist halb vier, Steinmeier und Büdenbender sitzen unten im Publikum. Vor ihnen gehen nach und nach Menschen auf die Bühne. Eine Gruppe spricht schmerzhaft eindrücklich über Rassismus im eigenen Leben, ihre Performance gipfelt in diesem Satz einer jungen Frau: "Rasse, dieser Begriff erstickt mich."
Eine andere Gruppe greift Steinmeier sogar persönlich an, weil der 2020, in seiner Weihnachtsansprache, die Klimakrise nur kurz erwähnt hat. Sie führen eine alternative Ansprache vor, an deren Ende der fiktive Präsident verspricht, ein Banner mit der Aufschrift "Wir müssen jetzt handeln statt Klima wandeln" an der Fassade von Schloss Bellevue aufzuhängen. Am Ende gehen sie ins Publikum, zu Präsident Steinmeier, und drücken ihm eine Checkliste in A3-Größe für die nächste Weihnachtsansprache in die Hand. Von wegen brav.
Was sich auch zeigt bei diesen Vorführungen: Bei Themen wie dem Kampf gegen die Klimakrise und Antirassismus sind sich die 150 Teilnehmer offensichtlich recht einig, es braust lauter Applaus auf im Zelt, es gibt lautstarken Jubel, keinen hörbaren Widerspruch. Von den Erstwählern, die in mancher Region Deutschlands zu einem erheblichen Teil die rechtspopulistische AfD gewählt haben (oder bei Juniorwahlen in Schulen ihr Kreuz bei ihr gemacht haben) scheint niemand hier zu sein, an diesem Tag im Schloss Bellevue.
Um zwanzig vor fünf ist es dann vorbei. Erst spricht Elke Büdenbender. Die Teilnehmenden hätten "viele Fragen aufgeworfen, die uns seit Langem beschäftigen", meint sie, unter anderem diese: "Wie schaffen wir eine demokratische Kultur, die niemanden zurücklässt und niemanden verletzt?"
Neben ihr steht der Bundespräsident, eine Hand in der Hosentasche, in der anderen die zusammengerollte Weihnachtsansprachen-Checkliste. Dann spricht er und sagt: "Was ich nicht erwartet habe: Dass ihr sogar meine Arbeit tut". Und rollt die Checkliste aus.
Steinmeier bittet dann um Verständnis dafür, dass sich auch seine nächste Weihnachtsrede nicht nur um die Klimakrise drehen werde. Er meint aber: "Es war ein toller Tag mit tollen Diskussionen." Und er verspricht, mit Blick auf die Vorschläge und Forderungen, die er gehört habe: "Das bleibt nicht einfach alles so im Raum hängen und verhallt."