Rosa gefärbte Haare, breites Lächeln, das seine Augen mitlachen lässt – man kennt ihn in Leipzig: Marco Böhme. Er ist einer der Direktkandidierenden der Linke Sachsen. Und kämpft für seine Partei ums politische Überleben im Landtag. Denn an "Böhmi", wie er liebevoll genannt wird, hängt es. Zieht die Linke erneut in den Landtag ein oder fallen ihre Sitze an die AfD?
Als er in sein Büro – das "Interim" – in Leipzig kommt, tritt er ins Chaos. Alles schreit nach Wahlkampf. Überall liegen Plakate, Linken-Merchandise – in einer Ecke findet sich sogar eine Popcornmaschine.
"Interim" heißt es, weil das alte Büro nur übergangsweise war. Doch der Name ist dem neuen Büro geblieben. Er passe irgendwie trotzdem, "denn als Politiker ist man ja auch nur 'interimsweise' gewählt", sagt er.
Der 34-Jährige ist parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion im Sächsischen Landtag und stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Seit 2008 ist er Parteimitglied und hat damals die Linksjugend Solid in Leipzig mitaufgebaut.
Nun schwebt über ihm aber das Damoklesschwert. Eigentlich sogar zwei. Denn kurz vor den Ostwahlen im September kündigten die Parteivorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan überraschend an, nicht erneut zu kandidieren. Das stürzt die Linke womöglich noch ins Chaos – je nach Ausgang der Neuwahlen zum Parteitag im Oktober.
Ein Problem, das aus der Ferne auch den Wahlkampf in Sachsen überschattet. Doch auch die Kampagnenplattform Campact mischt den Wahlkampf auf. Das könnte Böhme letztlich noch zum Verhängnis werden.
Denn der in Niedersachsen ansässige Verein hat eine Wahlempfehlung – und eigentlich jeweils 25.000 Euro Spende – für je zwei Direktkandidierende der Linken und der Grünen ausgesprochen, um die AfD zu verhindern. Bis auf einen Kandidaten der Linken lehnten allerdings alle die Spende ab, da jeweils nicht alle drei Kandidierenden unterstützt würden.
Campact befürchtet, dass die AfD eine Sperrminorität, also eine "Vetomacht", erhalten könnte. Das passiert, wenn die Partei ihre aktuellen Umfrageergebnisse von rund 30 Prozent bestätigen kann und ihr die Sitze der Linken und/oder beispielsweise der Grünen zufallen, wenn diese unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde blieben und keine zwei Direktmandate erringen können.
Damit könnte die AfD letztlich unter anderem wichtige Änderungen an der Verfassung oder der Geschäftsordnung des Landtags blockieren, für die eine Zweidrittelmehrheit nötig ist.
Das Problem an der Wahlempfehlung von Campact und der daran anknüpfenden Kampagne: Sie empfehlen ausgerechnet die beiden Linken Juliane Nagel, deren Direktmandat als sicher gilt, und Nam Duy Nguyen, der zum ersten Mal kandidiert – und somit keine Stammwählerschaft hat. Nicht aber Marco Böhme, der sein Direktmandat 2019 nur knapp verpasst und diesmal große Chancen darauf hat.
Zudem stehen sich ausgerechnet Grüne und Linke, die aktuell mit Blick auf die Umfragewerte (Grüne: 5,5 Prozent, Linke: 4,1 Prozent) mit einem ähnlichen Problem kämpfen, in den Wahlkreisen der Campact-Empfehlung direkt gegenüber. Heißt: Campact verhilft derzeit unter Umständen nicht etwa wie geplant zu mehr Demokratie, sondern spielt im Zweifel Grüne und Linke gegeneinander aus.
Denn: "Schwarz wählen verhindert absolut nicht die AfD, wie es die CDU gerne darstellt", betont Böhme, "im Gegenteil". Die derzeit kleinen Parteien in Sachsen zu wählen helfe dagegen, um Sitze gegen die AfD zu verteidigen. Etwa die Linke, die Grünen oder die SPD.
Die Kampagne von Campact funktioniert. Sie erreicht die Wahlberechtigten in Leipzig. Doch offenbar verwirrt sie mehr, als Klarheit zu schaffen. Diesen Eindruck vermitteln zumindest einige Interessierte, die am Wahlstand von Marco Böhme stehen bleiben.
Inzwischen ist der Linken-Politiker mit seinem Team zu seinem ersten Wahlkampftermin des Tages aufgebrochen – mit einem Ass im Ärmel: einer Popcornmaschine. Die habe bisher immer super funktioniert, erklärt Böhme mit Blick auf die zahlreichen Eltern, die mit ihren Kindern anhalten, obwohl der Stand noch gar nicht fertig aufgebaut ist. "Wir haben schon mehr als 100 Kilo Popcorn verpoppt im Wahlkampf", unterstreicht er lachend.
Entgegen der Annahme, die Linke wäre schon längst in der Versenkung verschwunden (immerhin ist sie seit 2019 von 10,7 Prozent auf derzeit drei bis vier Prozent abgerutscht), wird der Stand von Böhme an diesem Tag regelrecht durch Interessierte überrannt. Nicht selten mit tiefgehenden Fragen.
"Ah super, ihr seid hier", ruft ein Fahrradfahrer, während er zum noch im Aufbau befindlichen Wahlkampfstand rollt. "Die Zweitstimme gebe ich euch sowieso, aber was mache ich denn jetzt mit der Erststimme?", fragt der Mann den Linken-Politiker. Er habe eine Mail von Campact bekommen. Und nun festgestellt, dass die Grünen in seinem Wahlkreis angeblich größere Chancen hätten, mit den Erststimmen das Direktmandat zu holen. Solle er jetzt beide Parteien unterstützen oder nur eine?
Strategisches Wählen werde vielerorts heiß diskutiert, erklärt Böhme im Anschluss an das Gespräch mit dem Wähler. Viele Menschen fragten sich derzeit, wie die AfD verhindert werden könne. Allerdings muss man hier im Hinterkopf behalten: Der Wahlkreis von Marco Böhme ist eine Grünen- und Linkenhochburg. Die AfD kämpft hier in weiten Teilen nicht einmal mit Wahlplakaten um Stimmen. Somit steht der Wahlkreis 30, Leipzig 6, keinesfalls stellvertretend für ganz Sachsen.
Böhme wirkt den Tag über zwar fest entschlossen in der Sache, doch seine Augen können nicht über die Müdigkeit hinwegtäuschen, die ihn inzwischen täglich begleitet. Er kommt kaum zum Schlafen, und noch weniger mit seiner eigentlichen Arbeit in der Partei neben dem Wahlkampf hinterher. Der 34-Jährige weiß aber: "Ich muss das Direktmandat gewinnen, was anderes bleibt uns nicht übrig." Der Einzug über die Zweitstimme sei unwahrscheinlich.
Einen Plan B hat sich Böhme trotzdem zurechtgelegt: Wenn er das Mandat nicht gewinnen sollte, will er seinen Master machen, den er 2014 zugunsten seiner Kandidatur für die Linke abgebrochen hatte.
Böhme ist Realist: Viel schlimmer könne es für seine Partei in Sachsen nicht mehr werden. Seit Jahren sind die Linken in dem ostdeutschen Bundesland im Sinkflug – und nun Böhme zufolge auf dem Tiefstand angekommen. "Das wird schon wieder", meint er aber. Die beiden möglichen neuen Parteivorsitzenden Jan van Aken und Ines Schwerdtner seien vielversprechend.
Was anderes, als sich daran festzuhalten, bleibt Böhme vermutlich aber auch nicht übrig. Denn nüchtern betrachtet ist seine Partei spätestens seit der Abspaltung von Sahra Wagenknecht am Boden. Als demokratische Partei gegen die AfD im Osten anzukommen: größtenteils aussichtslos.
Es gebe einiges, was Böhme sich vom Bundesvorstand anders gewünscht hätte in der Vergangenheit, etwa weniger Alleingänge und stattdessen mehr Absprachen mit den Landesverbänden. Inwieweit die Parteispitze an den schlechten Umfragewerten der Linken in Sachsen Mitschuld trägt, ist schwer zu analysieren. Fest stehe aber: Die Arbeit des Bundesvorstandes sei nicht vollends von der Linke in Sachsen zu trennen.
Kurzfristig wird Böhmes zweiter Termin des Tages abgesagt – eine Podiumsdiskussion bei einem Kreisbauernverband im Nachbarlandkreis. Ein Genosse übernimmt. Böse ist er darum nicht. "Meine Ansichten wären dort nicht alle angekommen", ist sich Böhme sicher.
Stattdessen fährt der Linke kurz nach Hause, bevor er abends zu seinem nächsten Wahlkampftermin muss. Doch zum Schlafen bleibt ihm keine Zeit. "Auf mich warten jetzt 180 Mails, ich muss los", verabschiedet sich Böhme hastig.