Grimmas historischer Ortskern wurde beim Hochwasser 2002 fast komplett zerstört – und wieder aufgebaut.Bild: watson / rebecca sawicki
Vor Ort
Wenn die sächsische Stadt Grimma in den überregionalen Medien auftaucht, dann ist dort etwas Schlimmes passiert.
Wie im Dezember 2021, als 30 Menschen bei Nacht mit Fackeln vor das Haus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping zogen. Der Anlass: unliebsame Corona-Maßnahmen. Die Intention: Sie wollten offenbar Angst verbreiten.
Die Grimmaerin Köpping sagte damals: "Ich bin stets gesprächsbereit. Fackel-Proteste vor meinem Haus aber sind widerwärtig und unanständig." Der Einschüchterungsversuch war kein Einzelfall. Morddrohungen und Drohbriefe gegen Politiker sowie versuchte Fackelzüge gibt es immer wieder.
bild: imago / dirk sattler
Ortsbesuch in Grimma, an einem sonnig-kalten Januarvormittag. Termin im Büro von Matthias Berger, der hier seit zwei Jahrzehnten Oberbürgermeister ist.
Der parteilose Berger sagt, natürlich gebe es jene Menschen in Grimma, wie auch in anderen Dörfern und Städten Sachsens, die immer latent unzufrieden seien. Er ergänzt: "Wir müssen aber differenzieren: Die Menschen, die bei Frau Köpping vor dem Haus standen, standen dort, weil es das Haus der Gesundheitsministerin ist, nicht weil es sich in Grimma befindet."
"Hier im Osten hatten die Menschen lange Zeit keine Möglichkeit, sich was aufzubauen."
Matthias Berger, Oberbürgermeister von Grimma
Aber was auch zur Wahrheit gehöre: Der Großteil der Menschen, die dort vor dem Haus gestanden hätten, seien Grimmaer gewesen. "Ich habe mich dafür geschämt", stellt Berger klar.
Berger sagt, mit Trillerpfeifen und Fackeln vor ein Haus zu ziehen, um so seinen Unmut kundzutun, "das ist für mich NS-Symbolik, eine rote Linie, das geht gar nicht".
Differenziert werden müsse trotzdem.
Denn es gebe eine breite Masse, die latent unzufrieden sei. Viel breiter als die 30 Fackelträger vor dem Haus der Gesundheitsministerin.
"Ich gebe mal Beispiele", sagt er. Berger kommt in Fahrt:
"Jetzt wird Atomstrom plötzlich grün. Da kann man sich schon wundern als ganz normaler Bürger. Bei uns wird alles zugemacht und wir kaufen bald den günstigen Strom aus dem Atomland Frankreich, weil die von der EU-geförderte Kraftwerke bauen. Man sieht, dass die Bundeswehr nicht in der Lage ist, einen ordentlichen Abzug aus Afghanistan hinzubekommen. Man sieht, dass die Rentenkasse leer ist. Man sieht, dass sich der Staat schwertut mit dem Impfen. Insgesamt kommt dann irgendwann das Gefühl: Der Staat versagt in vielen Belangen."
Objektiv betrachtet, sagt Berger, könne er dieses Unwohlsein nachvollziehen.
Zu den gesellschaftlichen Ängsten gesellten sich bei vielen die persönlichen Ängste. "Hier im Osten hatten die Menschen lange Zeit keine Möglichkeit, sich was aufzubauen. Dann kam die Wende und den Menschen wurde alles weggenommen – das einzige, das sich im Westen verändert hat, war der grüne Pfeil", sagt Berger. Also jener Pfeil, der es an manchen Ampeln ermöglicht, bei Rot für Geradeausfahrende rechts abzubiegen.
Viele in Grimma und in Ostdeutschland kämpften um ihre Existenz und seien dadurch anfälliger für leichte Lösungsansätze. "Vor fünf Jahren waren die Ausländer das Problem, heute ist es Corona", bringt Berger dieses Gefühl auf den Punkt. Nach Corona wird das nächste Thema kommen, bei dem Menschen ihren Frust herauslassen können, ist sich Berger sicher. Er tippt auf die Klimapolitik. Oder vielleicht die Gendersprache.
"Ein Ostdeutscher mit West-Know-how."
Matthias Berger, Oberbürgermeister von Grimma
Während des Gesprächs klingelt immer wieder das Handy des Bürgermeisters. Kommunalpolitiker, die Fragen haben zur neuen Coronaverordnung: Vor allem die Frage, welche G-Regel denn nun im Plenum des Stadtrats gilt, sorgt für Verwirrung. Berger verspricht, das in Erfahrung zu bringen und eine Mitteilung zu verschicken. Er verlässt kurz den Raum.
2002 und 2013, zwei Mal innerhalb von elf Jahren, wurde Grimma überschwemmt. Bild: Getty Images Europe / Jens Schlueter
Seit 21 Jahren ist Berger Oberbürgermeister. Damals kam er von seinem Jura-Studium in Konstanz am Bodensee zurück in seine Heimat, nach Grimma: "Ein Ostdeutscher mit West-Know-how", wie er sich selbst beschreibt.
An seinen Posten sei er damals eher zufällig gekommen: Er wurde gefragt, ob er kandidieren möchte. Mittlerweile wurde er schon einige Male wiedergewählt. Bei der bisher letzten Wahl 2015 mit 89,9 Prozent der Stimmen. Sieben Jahre dauert eine Amtszeit. "So schlecht habe ich es also wohl nicht gemacht", fasst er zusammen.
Bergers Herrschaftsgebiet: 218 Quadratkilometer Fläche, ein Gebiet, das größer ist als das von ganz Düsseldorf. Darauf 35 Ortsteile, verbunden durch eine Bundesstraße. Durchsetzt mit großen Wiesenflächen, Gewässern und Hügeln.
Grimma ist 1200 Jahre alt und die Mulde war früher ein Grenzfluss zwischen den Slawen und den Germanen. Die einzelnen Ortsteile zeigen das bis heute. "Alle Ortsteile Grimmas, die östlich der Mulde liegen, sind slawisch geprägt. Das sieht man allein schon an den Namen", sagt Berger. Und zählt auf: Mutzschen und Würschwitz zum Beispiel seien slawisch geprägt, Beiersdorf hingegen germanisch.
Das Gebiet der Großen Kreisstadt Grimma, auf Google Maps.
Die große Fläche kommt dadurch zustande, dass sich andere Städte und Dörfer der großen Kreisstadt Grimma angeschlossen haben. Die erste Eingemeindung war bereits 1872. Die letzte: 2012 – die 14 Kilometer östlich von Grimma liegende Stadt Mutzschen. Insgesamt 13 Ortschaftsräte fasst die Kreisstadt. "Das Witzige ist: hier hat auch jede Ortschaft eine eigene Mentalität – und da fragt man sich, warum sich die Menschen auf der Erde nicht verstehen", sagt Berger.
In seinem Büro liegt ein Beispielglasfaserkabel: Ein Relikt aus der Zeit, in der der Oberbürgermeister durch alle Dörfer seiner Stadt tingeln musste, um auf Infoveranstaltungen den Nutzen von Glasfaserkabeln zu erklären. Jedes Haus in Grimma soll einen solchen Anschluss erhalten. Bezahlen wird diesem Umbau die Stadt. Geplant ist, noch in diesem Jahr mit dem Bau zu beginnen.
"Das war schon krass: Ich war ein halbes Jahr im Amt und dann war die Stadt weg."
Matthias Berger, Oberbürgermeister von Grimma
"Wir sind weniger eine klassische Kleinstadt als vielmehr eine Art Landkreis. Um das mal direkt zu vergleichen: Grimma hat 28.500 Einwohner auf einer Fläche, die so groß ist wie Chemnitz mit 250.000 Einwohnern", sagt Berger. Und durch diesen Umstand ergäben sich eine ganze Menge von Problemen: Sei es nun die Pflege der Straßen oder der Gewässer. Überall hat Grimma weniger Personal, weil es eben als Kleinstadt gilt.
Eines dieser Gewässer im Grimmaer-Territorium ist die Mulde. Sie war es auch, die Grimma vor 20 Jahren bundesweite Aufmerksamkeit bescherte, als Berger gerade Oberbürgermeister geworden war.
Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder besucht das zerstörte Grimma im Sommer 2002.Bild: Zentralbild / Waltraud Grubitzsch
Genauer gesagt: Es war das Jahrhunderthochwasser. Die historische Altstadt wurde zerstört. Der Kanzler Gerhard Schröder (SPD) machte damals in Grimma halt, es war Wahljahr. Er versprach unbürokratische Hilfen, machte mit der Bundesregierung Milliarden locker. Denn nicht nur Grimma fiel der Flutkatastrophe zum Opfer, sondern viele Städte und Landkreise im Osten der Republik.
"Das war schon krass: Ich war ein halbes Jahr im Amt und dann war die Stadt weg", erinnert sich Berger. Es sei Glück gewesen, dass nur ein Mensch ums Leben kam.
"Man muss mit Minimum fünf Jahren Arbeit rechnen, bis die Schäden einer solchen Flut Geschichte sind."
Matthias Berger, Oberbürgermeister von Grimma
Heute ist von der Flut nichts mehr zu sehen. Die kleinen bunten Häuser in der Altstadt sind wieder aufgebaut. Geschäfte und Restaurants wieder eingezogen. Viele dieser Restaurants haben in dieser zweiten Januarwoche aber noch geschlossen: Der Grund ist der sächsische Quasi-Lockdown. Restaurants dürfen zu dieser Zeit in Sachsen nur unter 2G-Bedingungen öffnen. Und müssen ihre Gäste um 20 Uhr wieder rauskehren.
Den Italiener in der Langen Straße schrecken die Regeln allerdings nicht ab: Er hat geöffnet, einige der Tische sind voll mit Gästen. Vor Spaghetti, Pizza und Lasagne debattieren sie über Corona und die Impfpflicht. Die Stimmung: entspannt. Kommen neue Gäste, werden sie begrüßt. Gehen sie, werden sie verabschiedet. Typisch Kleinstadt eben.
Der Oberbürgermeister möchte jetzt seine Stadt herzeigen, bei einer Fahrt in seinem Hybrid-Hyundai mit Panorama-Glasdach. Er kurvt flott um eine Straßenecke, grüßt einen Bürger mit der Hand und sagt: "Man muss mit Minimum fünf Jahren Arbeit rechnen, bis die Schäden einer solchen Flut Geschichte sind." Er möchte die Staumauer zeigen, die Grimma im Anschluss an die Flut gebaut hat.
Mathias Berger, der Oberbürgermeister von Grimma, in seinem Hybrid-Auto.Bild: watson / Rebecca Sawicki
Immer wieder winkt Berger während der Fahrt nach draußen. Grüßt Passanten und Autofahrer. Kurz hält er an und tauscht sich mit einer Frau mittleren Alters aus, die gerade ihr Fahrrad schiebt.
Berger: "Ich grüß' dich, wie geht es dir?"
Die Frau: "Erkältet"
Der Oberbürgermeister: "Corona?"
Die Bürgerin: "Nee, es gibt auch noch andere Krankheiten."
Die beiden tauschen sich über das vergangene Jahr aus, und darüber, was sie vom neuen erwarten. Berger sagt: "Das Motto ist: Möge 2022 besser werden als 2021 und schlechter als 2023!" Kurz geht es um Traueranzeigen und Todesfälle im Bekanntenkreis. Weiter geht's.
Vor einer Brücke kommt der Hybrid zum Stehen. Der Oberbürgermeister steigt aus und läuft strammen Schrittes auf die Brücke über der Mulde. Von dort aus ist die Hochwasserschutzwand gut zu sehen. Eingebaut in die Mauern des alten Schlosses. Dieses war im 15. Jahrhundert als Nebenresidenz der Wettiner, also einem deutschen Adelsgeschlecht errichtet worden.
Albrecht der Beherzte, der Stammesvater des sächsischen Adels, war in Grimma zu Hause.
In das alte Schloss ist die Hochwasserschutzwand eingebaut.Bild: watson / rebecca sawicki
Heute können die Schießscharten des alten Schlosses im Falle von Hochwasser versiegelt werden. Insgesamt 2,2 Kilometer lang ist die Mauer, die auch neben dem Schloss weiter verläuft. Entlang des Flusses schützt sie die Altstadt vor einer weiteren Flutkatastrophe. 15 Meter tief im Boden eingelassen, damit die Mulde das Grundwasser nicht hochdrückt.
Beim Hochwasser 2013 war die Schutzanlage noch nicht ganz fertig, die Stadt wurde erneut überflutet.
Als im vergangenen Sommer die große Flut im Südwesten Deutschlands kam, hatte Berger viel Kontakt ins Ahrtal. "Unsere Leute waren die ersten, die da geholfen haben", sagt er. Der Innenminister von Rheinland-Pfalz und eine Riege an Bürgermeistern aus dem Katastrophengebiet seien nach Grimma gekommen, um sich beraten zu lassen. Die Grimmaer hätten außerdem eine größere Summe gespendet. "Wir waren dazu verpflichtet", sagt Berger. Und fügt an: "Grimma wurde damals so sehr geholfen bei dem Hochwasser."
Grimma nach der Jahrhundertflut im Jahr 2002.Bild: dpa / Waltraud Grubitzsch
"Heute sind sogar wieder Touristen da", sagt Berger, als er seinen Blick kurz über die Brücke und den Weg entlang am Fluss streifen lässt. Breite Stufen erstrecken sich von dem Weg bis hin zum Fluss. "Das habe ich mir in Überlingen bei Konstanz am Bodensee abgeguckt", sagt Berger. Seine Idee: Junge Menschen sollen sich am Fluss aufhalten und wohlfühlen. Auch an diesem sonnigen Januartag sind ein paar dort. Vor den Schutzwänden, an denen Efeu rankt – Graffitis soll so vorgebeugt werden.
Zurück ins Auto. Weiter geht's, raus aus der Altstadt, weg von der Mulde, hinein ins neue Gewerbegebiet. "Insgesamt sind es 55 Hektar und fast alle Grundstücke haben wir schon vergeben", sagt Berger. Bisher ist dort vor allem Bauland zu sehen. Die ersten Industriebetriebe haben bereits angefangen, sich auszubreiten. Aktuell baut eine Firma, die wasserstoffbetriebene Kehrmaschinen herstellt. Metallstreben und Kräne ragen hier in den Himmel.
"Die Menschen hat überzeugt, dass eine Firma von hier, mit Wind von hier, Strom für uns alle herstellt."
Matthias Berger, Oberbürgermeister von Grimma
Der dritte Bauabschnitt soll noch im Januar baureif werden. Für ihn gibt es bereits Anfragen aus der ganzen Welt, sagt der Oberbürgermeister. "Firmen aus den USA und aus Südkorea haben zum Beispiel angefragt, oder auch aus Israel", sagt er. Ein Augenmerk soll in dem neuen Gewerbegebiet auf Wasserstofftechnologie gelegt werden. "Wir wollen einen Beitrag leisten, zu Alternativen Energien", sagt Berger.
Auch hier komme Grimma die große Grundfläche zugute, meint Berger. Anders als in Großstädten gebe es hier genug Land, um Windkraft- oder Biogasanlagen zu bauen. Dieser Strom sei es, der später in Wasserstoff umgewandelt werden könne. "Ein paar Windräder haben wir schon und gerade sind wir dran, noch mehr zu planen", sagt Berger.
Einige Windräder gibt es in der großen Kreisstadt schon.Bild: watson / Rebecca Sawicki
Über die Windkraftanlagen, die beispielsweise zwischen Großbardau und Kleinbardau stehen, sei im Ortsbeirat abgestimmt worden. Denn: Wie in vielen ländlichen Gegenden ist auch die Grimmaer Stadtgemeinschaft nicht gänzlich überzeugt von Windrädern. "Die Menschen hat überzeugt, dass eine Firma von hier, mit Wind von hier, Strom für uns alle herstellt", sagt Berger. Was hingegen bei den Grimmaern nicht gut ankäme: "Wenn es eine Holding wäre, die mit den Windkrafträdern nur den Aktienkurs in die Höhe treiben will", sagt Berger.
Der Oberbürgermeister selbst hat nach eigenen Angaben eine Fotovoltaikanlage auf dem Dach. "Mir macht es Spaß, wenn mein Plug-In-Hybrid mit dem Strom von meinem eigenen Dach geladen wird", sagt er. Und so komme man mit der Idee, mehr Windräder oder Fotovoltaikanlagen zu bauen, auch besser bei der eigenen Bevölkerung an: mit Begeisterung. Aus diesem Grund habe Grimma vor acht Jahren eigene Stadtwerke gegründet. Strom aus Grimma für Grimma sozusagen.
Seit acht Jahren hat Grimma eigene Stadtwerke.Bild: watson / rebecca sawicki
Nächste Etappe der Rundfahrt: Das Neubaugebiet. "Grimma war immer zu weit draußen, um am Aufschwung in Leipzig partizipieren zu können. Bis jetzt, denn nun bekommen wir einen S-Bahn-Anschluss", sagt Berger. Die Grimmaer können so bald im Halbstundentakt auf den rund 40 Kilometer entfernten Leipziger Marktplatz fahren.
"Grimma wächst seit ein paar Jahren immer weiter. Die Leute wollen plötzlich hierherziehen", sagt Berger. Mit den Einnahmen durch die Häuser, die jetzt schon in dem Neubaugebiet stehen, soll der Rest erschlossen werden. Mit viel Platz und viel Grün zwischen den einzelnen Häusern. Auch ein Kindergarten ist geplant.
Genau das ist es, was Berger an seinem Amt reizt: Er kann sehen, was er bewirkt. Er kann sehen, wie sich Grimma entwickelt. "Würde ich im Bundestag eine Rede halten, würde ich mal fragen, ob die Abgeordneten eigentlich nicht merken, dass es sehr viele Menschen in unserem Land gibt, die gerade um ihre Existenz kämpfen", sagt Berger.
Im Sommer dieses Jahres sind die nächsten Oberbürgermeisterwahlen. Ob Matthias Berger erneut antritt steht noch nicht fest.