Bilder von Leichenbergen, zerstörten Häusern und ausgebrannten Autos in der Ukraine schockieren seit Wochen weltweit. Der Vorwurf des Völkermords und des Kriegsverbrechens seitens Russlands wurde schnell laut. Das moralische Urteil im russischen Angriffskrieg in der Ukraine ist leicht, doch juristisch ist es komplizierter.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine von einem Genozid an seinem Volk. Spätestens seit dem Leichenfund in Butscha, einem Vorort der ukrainischen Hauptstadt Kyiw, wird auch in Deutschland ein mutmaßliches Kriegsverbrechen Russlands wahrgenommen.
Was ist eigentlich ein Kriegsverbrechen und auf welche Strafen muss sich der russische Präsident Wladimir Putin einstellen? Watson hat die wichtigsten Fragen für euch geklärt.
Russische Soldaten sollen in den vergangenen Wochen zahlreiche Zivilistinnen und Zivilisten in den besetzten Gebieten der ukrainischen Regionen Tschernihiw, Charkiw und Kyiw verletzt, vergewaltigt und gefoltert haben. Das dokumentierte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in einem Bericht. Jetzt kommen nach dem Abzug der russischen Truppen immer mehr Leichenberge zum Vorschein, die eine neue Dimension der Kriegsführung offenbaren.
Das Kriegsrecht schreibt vor, wie sich die Staaten, die Krieg führen, zu verhalten haben. Verboten ist dabei unter anderem, Zivilistinnen und Zivilisten grausam zu behandeln. Darunter fallen unter anderem Misshandlungen oder Folter, aber auch der Einsatz von Streubomben oder Chlorgas. Auch Soldaten, die sich ergeben wollen, dürfen nicht getötet werden.
Verletzt ein Staat das geltende Kriegsrecht dahingehend, liegt ein Kriegsverbrechen vor. Besteht der Vorwurf einer oder mehrerer solcher Taten, kann der Staat, der sie begangen haben soll, vor dem Internationalen Strafgerichtshof im niederländischen Den Haag angeklagt werden.
Allerdings ist im Falle der Ukraine und Russland strittig, ob der Einsatz von Streubomben tatsächlich das Kriegsrecht verletzt. Denn 2008 haben mehr als 100 Staaten die sogenannte Streubomben-Konvention unterschrieben. Ein internationales Abkommen, das die Verwendung, Herstellung, Weitergabe und Lagerung von Streumunition verbietet. Russland und die Ukraine sind kein Teil dieser Konvention.
FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann bezeichnete den Leichenfund in Butscha beim Nachrichtensender Welt als "Völkermord", der nicht zu relativieren sei.
Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht schon länger von einem Genozid an den Ukrainerinnen und Ukrainern. Nach dem Leichenfund in Butscha sagte er: "Das sind Kriegsverbrechen und sie werden von der Welt als Völkermord anerkannt werden."
Von Völkermord wird dann gesprochen, wenn ein ganzes Volk oder eine Volksgruppe durch die Kriegssieger ausgelöscht wird. Gründe können ethnische oder soziale Merkmale, die Nationalität oder religiöse Überzeugungen sein. Dieses Vergehen zählt zu den schlimmsten Kriegsverbrechen.
Nachdem Tschetschenien, eine Region im Nordkaukasus, nach dem Zerfall der Sowjetunion die Unabhängigkeit anstrebte, versuchte Russland in zwei Kriegen wieder die Kontrolle über die Region zu erlangen. In den beiden Tschetschenienkriegen (1994 – 1996 und 1999 – 2009) begingen beide Kriegsparteien schwere Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen. Der russische Präsident Wladimir Putin drohte damals, er werde alle tschetschenischen "Terroristen auf der Latrine abmurksen".
Auch im Kaukasus-Krieg, 5-Tage-Krieg genannt, zwischen Russland und Georgien im Jahr 2008 beging Russland Kriegsverbrechen. Darunter Folter, Geiselnahme, Misshandlungen und illegale Vertreibung georgischer Bürgerinnen und Bürger.
Laut dem UN-Menschenrechtsrat haben sowohl Russland als auch Syrien im Kampf um die syrische Großstadt Aleppo zwischen 2012 und 2016 Kriegsverbrechen begangen – darunter auch der Einsatz von Chlorgas. Auch Fass-, Streu- und Brandbomben wurden abgeworfen.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat in den vergangenen Wochen im russischen Angriffskrieg in der Ukraine zahlreiche mutmaßliche Kriegsverbrechen dokumentiert. Laut der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft sollen es mittlerweile mehr als 7000 Meldungen über russische Kriegsverbrechen rund um die Region Kyiw geben. Die meisten davon in Borodjanka.
Diesen Meldungen wird jetzt nachgegangen. Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa schrieb auf Twitter: "Die Teams von Anklägern, Ermittlern und Experten unter Koordination der Generalstaatsanwältin der Ukraine dokumentieren in Butscha, Borodjanka, Irpin und Hostomel jedes Kriegsverbrechen der Besatzer." Es gäbe schon über 100 Seiten Daten über die Kleinstadt Butscha. "Unsere Aufgabe ist es, alle zu identifizieren, die an den Massakern beteiligt waren."
Kriegsverbrechen können von nationalen Gerichten verfolgt werden, aber vor allem werden sie vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag geahndet. Er wurde 1998 eigens dafür eingerichtet und hat ein paar Jahre später seine Arbeit aufgenommen.
In Den Haag müssen sich allerdings nur die Staaten verantworten, die das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs unterzeichnet haben. Das haben Russland und die Ukraine bisher nicht getan. Allerdings hat die Ukraine 2013 die Strafgerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für ihr Territorium anerkannt, weshalb der Strafgerichtshof nun auch die möglichen russischen Kriegsverbrechen auf ukrainischem Boden verfolgen kann.
Aktuell werden durch den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Ahmad Khan, einem britischen Juristen, Informationen gesammelt, um mögliche Kriegsverbrechen nachzuweisen. Das kann allerdings laut dem Völkerrechtler Daniel Thym von der Universität Konstanz noch Jahre dauern. Denn alle Fotos, Videos und Informationen müssen zunächst verifiziert werden.
"Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass der Krieg in der Ukraine in ganz naher Zukunft juristisch aufbereitet wird", sagte Thym zu BR24. Ein anschließender Prozess ist auch nicht sicher, denn ein Verfahren kann nur geführt werden, wenn sich die Beschuldigten auf die Anklagebank in Den Haag setzen.
Eine Aufklärung von Kriegsverbrechen kann unter Umständen eine lange Zeit in Anspruch nehmen. Im Fall des Jugoslawientribunals dauerte es Jahre, bis Serbien den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević auslieferte.
Und auch bei den möglichen russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine könnte es länger dauern. Denn dazu müssten die Beschuldigten von den russischen Behörden ebenfalls ausgeliefert werden. Darunter könnte auch der russische Präsident Wladimir Putin fallen. Außerdem müssen sowohl diejenigen, die selbst an der Waffe waren als auch die, die das Kommando dazu gegeben haben oder an der Spitze der Armee stehen, mit einer Anklage rechnen. Allerdings nur, wenn ausreichend Beweise vorhanden sind.
Da Russland seinen eigenen Präsidenten mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ausliefern würde, können Individuen wie Putin durch den Internationalen Strafgerichtshof nur schwer verfolgt werden. Jedoch kann der Internationale Gerichtshof das Land Russland strafrechtlich wegen der Verletzung der Völkermordkonvention verfolgen.
Die Völkermordkonvention ist eines der ältesten Menschenrechtsabkommen. Sie ist 1951 in Kraft getreten und legt unter anderem fest, dass nicht nur der tatsächliche Völkermord, sondern auch vorbereitende Handlungen eines solchen bestraft werden. Darüber hinaus ist dort festgeschrieben, dass es bei Völkermord keine Immunität gibt.
Die Ukraine hat Russland wegen der Verletzung der Völkermordkonvention verklagt und fordert eine Einstellung der Kriegshandlungen. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat die Verhandlung im März aufgenommen.
Dort können zwar verbindliche vorläufige Maßnahmen beschlossen werden, wie die Verpflichtung, die Kriegsmaßnahmen auszusetzen, wenn sie mit einem Genozidvorwurf zusammenhängen. Aber durchgesetzt werden kann diese Entscheidung nur vor dem UN-Sicherheitsrat, vor dem Russland allerdings ein Vetorecht genießt. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass eine solche Durchsetzung wegen der benötigten Einstimmigkeit im Sicherheitsrat nicht erfolgen wird.