In Afghanistan herrscht aktuell eine der größten humanitären Notlagen dieser Welt. Seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 hat sich die Situation in dem Land dramatisch geändert: Nicht nur die rechtliche Lage der Frauen ist verheerend. Menschen, die damals die Bundeswehr unterstützten, sind großen Gefahren ausgesetzt. Zudem hat das Land mit Armut und Hunger zu kämpfen.
Auch das Doha-Abkommen von 2020 und der damit zusammenhängende Abzug internationalen Militärs sind von Bedeutung für die aktuelle Lage. Seit Juli dieses Jahres wird das Vorgehen von einem Untersuchungsausschuss im Bundestag unter die Lupe genommen.
In der ersten öffentlichen Anhörung unter dem Vorsitz von Ralf Stegner (SPD) ging es am Donnerstag konkret um die "Lage in Afghanistan zum Zeitpunkt des Doha-Abkommens". Expert:innen gaben hierfür ihre Einschätzung.
Denn: Die Bundesregierung steht wegen möglicher Fehlentscheidungen in der Kritik. Nun soll geklärt werden, wie es zu den Lageeinschätzungen von Vertreter:innen der Bundesbehörden rund um den Abzug der Bundeswehr und die Evakuierung weiterer Personen kam.
Die wichtigsten Fragen und Antworten dazu:
Mehr als 18 Jahre nach dem US-Einmarsch in Afghanistan haben die USA und die militant-islamistischen Taliban in Doha ein Abkommen geschlossen. Am 29. Februar 2020 unterzeichneten es der damalige US-Sondergesandte für Aussöhnung in Afghanistan, Zalmay Khalilzad, und der Leiter des politischen Büros der Taliban in Doha, Mullah Abdul Ghani Baradar.
Es sollte nach Jahren des Krieges den Frieden im Land einläuten. So regelte die Vereinbarung den Rückzug aller Truppen der USA und ihren Verbündeten aus Afghanistan – darunter auch Deutschland. Im Gegenzug enthält es Sicherheitszusagen der Taliban gegenüber den USA und ihren Verbündeten.
Laut Abkommen sollten sich die USA aus innerpolitischen Fragen in Afghanistan künftig heraushalten. Im Gegenzug verpflichtete sich Afghanistan, dafür zu sorgen, dass vom Land keine Bedrohung für die Nato-Staaten ausgeht. Dazu gehört, dass Afghanistan auch niemandem Aufenthalt im Land gewährt, von dem solch eine Gefahr ausgehen könne.
Der Vertrag sah auch vor, innerafghanische Verhandlungen zur politischen Struktur und Führung des Landes zu beginnen. So solle etwa über eine Waffenruhe gesprochen werden.
Das Problem: Der Text enthielt in diesem Zusammenhang keinerlei Ziele oder Vorgaben.
Der Vertragsabschluss wurde international begrüßt, etwa von China, Russland, Indien und Pakistan. Auch vom UN-Sicherheitsrat wurde er einstimmig befürwortet. Mullah Hibatullah Akhundzada, der Führer der Taliban, bewertete das Abkommen ebenfalls als einen "großartigen Sieg".
Kritisch beurteilt wurde hingegen die Tatsache, dass die Regierung der Islamischen Republik Afghanistan nicht in das Abkommen eingebunden wurde. So war der Druck auf die afghanische Regierung, Zugeständnisse zu machen, hoch. Gleichzeitig wurde die afghanische Regierung nie als Verhandlungspartner von der Taliban-Führung anerkannt.
Nach Meinung von Fachleuten handelte es sich, auch deshalb, nicht um einen völkerrechtlichen Friedensvertrag. Das Abkommen konnte dennoch als Einstieg in einen Friedensprozess gewertet werden. Mit mäßigem Erfolg. Die Lage in Afghanistan ist heute alles andere als stabil.
Die Umsetzung des Abkommens verlief schleppend. Die Zahl der verwundeten und getöteten afghanischen Soldaten stieg in der Zeit nach Unterzeichnung des Vertrages schlagartig an. Denn: Die Taliban haben ihre Kämpfe fortgesetzt. Gegenüber den USA und den Verbündeten gab es hingegen keine verstärkten Kampfhandlungen mehr.
Am 31. Juli 2022 wurde der Anführer der Al-Qaida, Aiman az-Zawahiri, durch einen US-amerikanischen Drohnenangriff getötet. Das Taliban-Regime verurteilte dies als Verletzung des Doha-Abkommens. Die US-Regierung wiederum warf den Taliban vor, von der Anwesenheit az-Zawahiris in Kabul gewusst und damit gegen die Sicherheitsgarantien verstoßen zu haben.
Seit Beginn des Abzugs der US- und Nato-Truppen hatten die Taliban schnell wieder enorme Gebietsgewinne verzeichnet. Mitte August 2021 nahmen sie die Hauptstadt Kabul ein und erklärten sich zum Sieger.
Die Bundesregierung hat erst danach begonnen, deutsche Staatsangehörige, Bürger weiterer Staaten, afghanische Ortskräfte sowie weitere "zu Schützende" aus Kabul zu evakuieren.
Und sie ist bis heute noch nicht fertig damit.
Abseits der massiven Armut schätzen Expert:innen des Untersuchungsausschusses die Lage heute so ein: Derzeit gebe es innerhalb der Taliban-Führung heftige Machtkämpfe. Es wirke so, als ob die "moderate" Fraktion, die auch für eine behutsame Öffnung der Schulen für Mädchen und eine Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt plädiert, zurückgedrängt werde.
Die extremistische Fraktion dagegen arbeite in Richtung "Mittelalter" und befürworte "eindeutig" eine Rache an allen Afghanen, die für die westlichen Streitkräfte wie auch für westliche Regierungen und deren nachgeordnete Einrichtungen gearbeitet haben. "Die Racheakte würden und werden dann nach den Gesetzen der Scharia vollzogen werden", heißt es vonseiten der Experten.
Das würde auch diejenigen treffen, die der Bundeswehr während ihres Einsatzes unterstützend zur Seite standen und sich heute noch im Land befinden.
Die Bundesregierung steht in der Kritik, weil sie afghanische Ortskräfte und andere gefährdete Afghan:innen nicht schon vor der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban Mitte August ausgeflogen hat: Eine militärische Luftbrücke für diese Menschen zur Ausreise über den Flughafen Kabul gab es nur bis Ende August. Dann zog sich die US-Armee, die den Flughafen in der Hauptstadt Kabul geschützt hatte, zurück und mit ihr auch die westlichen Partnerländer.
Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen. Auch die Zusammenarbeit zwischen deutschen und ausländischen Akteuren steht im Fokus.
Interessant ist dabei die Frage, inwiefern und wo es Fehleinschätzungen gab – etwa im Hinblick auf die sicherheitspolitische Lage, wie der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, Ralf Stegner, bereits verlauten ließ.
Expert:innen sind überzeugt, dass die damalige Lage in Afghanistan bewusst schöngeredet wurde. "Hätte die Bundesregierung zugegeben, wie prekär die Sicherheitslage in ganz Afghanistan war, hätte sie nicht mehr begründen können, dass Menschen dorthin abgeschoben werden", sagt etwa Afghanistan-Experte Thomas Ruttig.
Nun stellt sich die Frage, wie die Bundesregierung weiter vorgehen könnte. Einer der Expert:innen des Untersuchungsausschusses ist der Regionalleiter der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), Hans-Hermann Dube. Er sagt:
Ein Neustart der deutschen entwicklungspolitischen Aktivitäten könne helfen, das Elend für die Bevölkerung zu lindern und gleichzeitig dabei helfen, Afghanistan politisch zu stabilisieren.