Ein litauischer Grenzschützer im Bahnhof von Kybartai bei der Kontrolle des russischen Passagierzugs von Kaliningrad nach Moskau.Bild: dpa / Doris Heimann
watson antwortet
Russland ist stinkig. Dass der russische Präsident Wladimir Putin, der seit Februar einen Angriffskrieg in der Ukraine führt, ein Problem mit dem Westen hat, ist nicht neu. Gerade aber stört ihn ganz besonders ein EU-Mitgliedsstaat: Litauen.
Der Baltik-Staat verwehrt Russland aktuell den Transit seiner Waren in die Exklave Kaliningrad. Zumindest der Güter, die von der EU sanktioniert werden: Stahl, Zement, Öl und Luxusgüter zum Beispiel. Auf dem Seeweg kann Russland auch mit Sanktionen belegte Waren in seine Exklave bringen. Russland nennt das eine Blockade – und droht mit "praktischen" Vergeltungen für Litauen.
Die Schuld an der vermeintlichen Blockade sieht Putin bei den USA. Insgesamt hält der Kreml die Beschränkungen für "illegal" und hat deshalb Gegenmaßnahmen angekündigt.
Der russische Präsident Wladimir Putin bei einer Pressekonferenz.Bild: dpa / Dmitry Azarov
Kaliningrad ist mit Russland über den Landweg nicht verbunden. Trotzdem ist die russische Exklave für Putin von großer strategischer Bedeutung. Denn die Hafenstadt ist Heimat der russischen Ostseeflotte. Nach eigenen Angaben habe Russland dort außerdem atomwaffenfähige Iskander-Raketen stationiert.
Was ist dran an den Vorwürfen Russlands? Und warum könnte der Transit bald wieder möglich sein? Die wichtigsten Fragen klärt watson für euch.
Was bedeuten die Drohungen Russlands?
Bereits kurz nach Beginn des Krieges in der Ukraine sagte Litauens Staatspräsident Gitanas Nausėda: "Wenn die Ukraine heute fällt, steht Putin morgen vor unserer Tür." Die baltischen Staaten haben aufgrund ihrer Vergangenheit große Angst vor Russland. Im Jahr 1940 nahm die Sowjetunion im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts das Baltikum ein.
Wie in der Ukraine leben auch in Litauen, Lettland und Estland russische Minderheiten. Die Staaten haben Angst, dass Russland auch diese Minderheiten als Vorwand für einen Einmarsch nutzen könnte. Bereits Anfang Juni hatte Jewgeni Fjodorow, ein ultranationalistischer Hardliner, im russischen Parlament die Unabhängigkeit Litauens infrage gestellt.
Der litauische Präsident Gitanas Nausėda.Bild: abaca / Blondet Eliot/ABACA
Litauen teilt sich zwar anders als Lettland und Estland keine Grenze mit Russland, dafür aber mit Belarus und eben der russischen Exklave Kaliningrad. Sie sind also alle nah dran, an Russland und Putin. Die Nato-Staaten nehmen diese Sorgen ernst: Sie haben auf ihrem Gipfel in Madrid eine verstärkte Truppenpräsenz an der Ostflanke des Bündnisses beschlossen. Für den Nato-Einsatz in Litauen ist Deutschland Führungsnation.
Praktisch jede Form der Auseinandersetzung mit Russland ist nun Teil eines Kräftemessens. Denn der Nato geht es auch darum, Präsenz zu zeigen und deutlich zu machen, dass sie im Notfall reagieren könnte. Eine Reaktion auf die Aggressionen Russlands, die von einem Verteidigungsbündnis zu erwarten ist. Der Kreml wiederum droht nicht nur dem Baltikum, er fühlt sich auch unfair behandelt und sieht die Schuld bei seinem alten Erzfeind.
Was ist an den Vorwürfen Russlands dran?
Russland spricht mit Blick auf den Transit durch Litauen von einer Blockade. Ein Faktencheck der Nachrichtenagentur dpa zeigte aber, dass die Güter, die nicht sanktioniert sind, weiterhin transportiert werden können. Lebensmittel oder Medikamente können beispielsweise weiter über das Land nach Kaliningrad transportiert werden. Menschen können ebenfalls über Land in die Exklave gelangen.
Von einer Blockade kann also keine Rede sein. Vielmehr von einer Durchsetzung der EU-Sanktionen. Wo wir beim nächsten Vorwurf wären: Die USA sind schuld.
Russland hat den USA "feindliche Handlungen" vorgeworfen und Gegenmaßnahmen angekündigt. Die USA betonten zwar stets ihr Interesse an der Aufrechterhaltung diplomatischer Beziehungen, sagte die Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa. Die Handlungen der USA würden allerdings, so die Russin, immer feindseliger. Und auch die Transitbeschränkungen in Litauen seien auf "offensichtliche Anregung und Vorgabe" der USA erlassen worden.
Die litauische Premierministerin Ingrida Simonyte hat Ende Juni in einem Video auf Twitter, erklärt, dass ihre Regierung nun nach einer dreimonatigen Übergangsfrist die von allen Mitgliedern beschlossenen EU-Sanktionen umsetze. Beschlossen von den EU-Mitgliedsstaaten. Von einer Blockade zusprechen, sei eine Lüge, sagt sie in dem Video.
Die deutsche Bundesregierung sieht das mit den Sanktionen anders als Litauen. Es sei Sache der EU, die notwendigen Rahmenbedingungen zu setzen, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in Madrid zum Abschluss des Nato-Gipfels. Die Regeln seien "natürlich immer festzusetzen im Lichte der Tatsache, dass es hier um den Verkehr zwischen zwei Teilen Russlands geht", sagte der SPD-Politiker. Alle Beteiligten seien gegenwärtig sehr bemüht, "hier eine Deeskalationsdynamik zu etablieren".
Nach Russlands Kritik erklärte auch die EU, dass sie die Beschränkungen überprüfen werde. Litauens Präsident Gitanas Nauseda sagte der Deutschen Presse-Agentur in Vilnius, man befinde sich "in enger Abstimmung mit der Europäischen Kommission". Diese werde voraussichtlich in einigen Tagen Leitlinien zur Behandlung der Transitgüter bekannt geben.
Wie soll die Lage deeskaliert werden?
Genau diese "Deeskalationsdynamik", von der Scholz spricht, ist es, die nun dafür sorgt, dass Stahl, Zement und Luxusgüter wieder per Landweg nach Kaliningrad kommen.
Die EU-Kommission will den Konflikt nämlich entschärfen, bevor er richtig heißläuft. Aus diesem Grund soll laut Informationen der "Süddeutschen Zeitung" in den kommenden Tagen eine neue Leitlinie über die Handhabung des Sanktionsregimes veröffentlicht werden. Erlaubt werden soll der Gütertransport per Bahn von Russland in die Exklave Kaliningrad – auch für Güter von der Sanktionsliste.
Olaf Scholz mit dem litauischen Präsidenten beim Besuch der deutschen Truppen in Litauen.Bild: dpa / Michael Kappeler
Eine Bedingung soll es aber auch geben: Alle sanktionierten Waren sollen nur in der üblichen bisherigen Stückzahl in die Exklave gebracht werden dürfen. Litauen soll die Transporte auf Auffälligkeiten prüfen dürfen. Bis zum 10. Juli soll es eine Lösung geben, denn dann wird das nächste Sanktionspaket in Kraft treten.
Die EU hat mit Russland 2002 ein Abkommen über den Transport von Waren und Personen geschlossen. Darauf beruft sich die russische Regierung, wenn sie der EU wegen des beschränkten Warenverkehrs Vertragsbruch vorwirft.
Warum ist Litauen enttäuscht von der EU?
Wie der "Spiegel" erfahren haben will, ist die litauische Regierung nicht glücklich mit dem Zurückrudern der EU. Das Magazin beruft sich auf Regierungskreise, die verlauten ließen, dass Deutschland Druck auf die EU-Kommission ausgeübt habe. Der Grund: "Sie fürchten, dass ihre Soldaten in einen militärischen Konflikt geraten könnten und lassen sich von Russland einschüchtern", heißt es.
Litauen bestehe darauf, sich mit den Sanktionen und den Transitbeschränkungen an geltendes Recht zu halten – und fühlt sich von der EU alleingelassen. "Nicht wir haben unsere Haltung geändert, sondern die EU hat es", heißt es in Vilnius. Die Sorge steige nun, dass die Rücknahme der Sanktionen die Sicherheitslage im Land verschlechtern könnte. Und zwar dadurch, dass die EU durch die Rücknahme von Russland nicht mehr ernst genommen würde.
(Mit Material von dpa)