Die Ukraine hat Russland wegen der Verletzung der Völkermordkonvention verklagt und fordert eine Einstellung der Kriegshandlungen. Der Fall wird vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag verhandelt.
Die Ukraine führt an, dass Russland die Invasion "fälschlicherweise" damit rechtfertige, dass Russen im Osten der Ukraine – also in den selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk – Opfer von Völkermord seien. In der Anklage beschuldigt die Ukraine Russland selbst des Genozids gegen Ukrainer.
Der Prozess startet an diesem Montag mit dem Statement der Ukraine, am Dienstag soll Russland aussagen. Wann ein Urteil erfolgt, steht nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa noch nicht fest.
Doch was kann ein solches Urteil überhaupt bewirken? Was bedeutet der Prozess für den Krieg? Und wieso wird der Fall nicht vor dem Internationalen Strafgerichtshof verhandelt? Diese und mehr Fragen klärt watson mithilfe des Völkerrechtlers Matthias Hartwig vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht für euch.
Prinzipiell, erklärt Matthias Hartwig, sei ein Staat der Gerichtsbarkeit des IGH nur unterworfen, wenn er die Gerichtsbarkeit anerkannt hat. Diese Anerkennung erfolge auch dadurch, dass ein Staat einen völkerrechtlichen Vertrag abschließe, nach welchem Streitigkeiten durch den IGH geklärt werden müssten. Ein solcher Vertrag sei die Völkermordkonvention.
Hartwig sagt:
Diese Fragen sind in der Völkermordkonvention nicht geregelt.
Was der IGH aber könne, sei verbindliche vorläufige Maßnahmen zu beschließen. Er könne zum Beispiel "die Kriegsparteien verpflichten, die Kriegshandlungen auszusetzen, soweit sie mit dem Genozidvorwurf zusammenhängen", so Hartwig.
Ein Problem gebe es allerdings: Der IGH kann seine eigenen Entscheidungen nicht durchsetzen. Diese Macht habe nur der UN-Sicherheitsrat – und dort genießt Russland das Vetorecht. "Es ist daher nicht davon auszugehen, dass der UN-Sicherheitsrat eine Resolution zur Durchsetzung der Entscheidung erlässt", sagt Hartwig.
Die konkreten Kriegshandlungen wird der Prozess im Zweifel nicht verhindern können.
Und auch wenn an den Vorwürfen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass im Osten der Ukraine Völkermord gegen Russen betrieben werde, etwas dran wäre – wofür es tatsächlich keinerlei Anhaltspunkte gibt –, hätte das aus Sicht des Völkerrechtlers Hartwig keine rechtlichen Auswirkungen auf das Kriegsgeschehen.
Er sagt:
Ungeachtet aller Vorwürfe möglicher Genozide handelt Russland also allein aufgrund des Angriffskrieges wahrscheinlich schon rechtswidrig
Laut Völkermordkonvention handelt es sich um einen Genozid, wenn eine "nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppen" mit Absicht ganz oder teilweise vernichtet wird. Folgende Handlungen erfüllen den Tatbestand:
Wie die Wochenzeitung "Zeit" berichtet, leitet auch der Internationale Strafgerichtshof Ermittlungen zu möglichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. Dieser verfolgt, anders als der Internationale Gerichtshof, keine Staaten, sondern Individuen – im konkreten Fall könnte er beispielsweise gegen Wladimir Putin vorgehen.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) wird außerdem nicht von allen Staaten anerkannt. Unter anderem Russland, aber auch die USA erkennen die Legitimität dieses Gerichtes nicht an.
Aus Sicht des Völkerrechtlers Hartwig ist die Grundlage für die Einleitungen der Ermittlungen des Chefanklägers des IStGH dadurch erfüllt, dass die Ukraine zwei Erklärungen der Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofes für alle auf seinem Territorium begangenen Straftaten anerkannt habe.
Dadurch kann also eine Ermittlung gestartet werden, ohne dass Russland den Gerichtshof anerkannt hat.
Hartwig führt aus:
Der Völkerrechtler fügt allerdings an, "dass eine strafrechtliche Verfolgung russischer Personen – etwa des Präsidenten – wegen des Verstoßes gegen das Aggressionsverbot nicht möglich ist." Das Aggressionsverbot erlaubt es dem Internationalen Strafgerichtshof, über die Verursacher von Angriffskriegen zu richten.
Putin kann also nicht rechtmäßig verurteilt, da Russland den Internationalen Strafgerichtshof nicht anerkannt hat.
Damit der Internationale Strafgerichtshof gegen Putin wegen des Angriffskrieges tätig werden könnte, hätte Russland diesen Straftatbestand im Statut ausdrücklich anerkennen müssen.