Plötzlich fehlen der Ampel-Regierung 60 Milliarden Euro. Eine kaum vorstellbare Summe. Gestrichen. Und damit entsteht ein riesiges Loch für den deutschen Bundeshaushalt. Grund dafür: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Es sei nicht rechtens gewesen, Coronahilfen umzuwidmen in einen Klima- und Transformationsfonds – und damit einen Schattenhaushalt. Verfassungswidrig. Abgelehnt.
Die Ampel steht nun vor großen Problemen; und damit das ganze Land. Schließlich geht es um die Frage: Woher das fehlende Geld nehmen? Sowohl Kürzungen als auch höhere Besteuerungen belasten am Ende die Bevölkerung. Der Staat ist die Summe seiner Bürger:innen. Was also bedeutet das Haushaltschaos? Und was könnte 2024 deshalb auf uns zukommen? Watson klärt die wichtigsten Fragen für euch.
2021 hat die Ampelregierung nicht eingesetzte Corona-Hilfen in Höhe von 60 Milliarden Euro umgewidmet. Fortan sollte das Geld für den Klimaschutz und die Modernisierung der Wirtschaft eingesetzt werden. Mittlerweile ist klar: Diese Umwidmung war verfassungswidrig, das ist das Ergebnis des Karlsruher Urteils. Außerdem entschieden die Richter, der Staat dürfe sich Notlagenkredite nicht für spätere Jahre auf Vorrat zurücklegen.
Es sind womöglich weitere Summen im Milliardenbereich für Zukunftsvorhaben gefährdet. Nicht betroffen, laut Verteidigungsministerium: das 100-Milliarden-Sondervermögen zur Ertüchtigung der Bundeswehr.
Da die genauen Auswirkungen auch auf den regulären Haushalt noch unklar sind, entschied das Finanzministerium, vorsorglich bestimmte Zusagen aller Ministerien für kommende Jahre im Haushalt zu sperren. Die sogenannte Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses ist vorerst abgesagt. Wann der Haushalt für 2024 nun beschlossen wird, bleibt vorerst offen.
Bei der Ampel dürften seit dem Urteil alle Alarmglocken schrillen. Schließlich sollten diverse Vorhaben aller Partner:innen mit dem Sondertopf finanziert werden. Über das weitere Vorgehen sagte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert im Gespräch mit watson: "Das besprechen wir im Kreise der Koalitionspartner unter Hochdruck und ich bitte um Verständnis dafür, dass wir Entscheidungen von solcher Tragweite jetzt im wirklich vertraulichen Rahmen entwickeln müssen."
Finanzminister Christian Lindner hat mittlerweile in einem Pressestatement angekündigt, für 2023 einen Nachtragshaushalt einzubringen. Das bedeutet, dass er Haushalt 2023, der im vergangenen Winter 2022 beschlossen wurde, nachträglich verändert wird. Im Umkehrschluss könnte die Ampel so die getätigten, aber durch das Urteil eben nicht mehr gedeckten Ausgaben auf sichere Füße stellen.
Lindner sagt dazu: "Wir werden die Ausgaben insbesondere für die Strom- und Gaspreisbremse jetzt auf eine verfassungsrechtlich gesicherte Grundlage stellen, dazu bedarf es dieses Nachtragshaushaltes." Über 2024 könne gesprochen werden, wenn die Rechtssicherheit für aktuelle Ausgaben hergestellt ist, stellt Lindner klar.
Die Bundesregierung will also die Schuldenbremse für das laufende Jahr erneut aussetzen. Das ist möglich, wenn eine Notlage anerkannt wird. In der letzten Novemberwoche soll über den Nachtragshaushalt abgestimmt werden. Damit will der Finanzminister auch Kredite aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds – der durch das Urteil aus Karlsruhe ebenfalls auf wackligen Füßen steht – Rechtssicherheit geben.
Möglich wäre aber, dass etwa die Opposition auch in diesem Fall in Karlsruhe klagt – wie am Ende entschieden würde, ist unklar. Es käme darauf an, ob die Richter:innen in Karlsruhe die Notlage, die zur Aussetzung der Schuldenbremse erforderlich ist, anerkennen.
Die Schuldenbremse per se ist ein Instrument, das die SPD am liebsten massiv reformieren würde. Ein Ansatz, der auch aus Sicht des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, sinnvoll wäre. Das Instrument sei in Zeiten der Transformation nicht mehr zeitgemäß.
Eine Möglichkeit, die zumindest von den Sozialdemokraten immer wieder aufs Tablett gebracht wird: Wenn der Staat nicht mehr ausgeben kann als er einnimmt, weil die Schuldenbremse ihn daran hindert, muss er mehr einnehmen. Sprich: Spitzensteuersätze für Einkommensmillionäre hoch, ebenso die Erbschaftssteuer für Milliardäre.
Ein Vorstoß, der bei den Liberalen womöglich auf taube Ohren stößt. Klar ist aber auch: Ein Loch von mindestens 60 Milliarden Euro stopft sich nicht nur aus der Portokasse. Jegliche Investition in Klimaschutz und Transformation auszusetzen, dürfte ebenso keine Option sein, wie an allen Ecken und Enden einzustreichen. Im Bereich der Sozialausgaben, die auch von Seiten der Opposition immer wieder angeführt werden, sind ausschließlich Kleckerbeträge einzusparen.
Der "Spiegel" hat die Kostenpunkte einmal aufgedröselt. In der Analyse wird klar: Gespart werden kann fast nirgends, zumindest nicht 2024.
Denn viele Bescheide über Wohn- und Kindergeld oder Bafög gelten noch bis ins kommende Jahr und können nicht einfach für ungültig erklärt werden. Das Bürgergeld währenddessen hat durch ein Urteil des Verfassungsgerichtes eine Haltelinie bekommen – die Erhöhung kann also ebenfalls nicht ausgesetzt werden. Renten und Pensionen können rechtlich nicht ohne weiteres gekürzt werden. Für Asylsuchende zahlen die Länder und Kommunen.
Ein Kostenfaktor, der laut der Analyse des Magazins verschoben werden könnte: Zuschüsse des Bundes zur gesetzlichen Krankenversicherung. Zahlen würden das am Ende die Versicherten.
Sozialverbände warnen unterdessen davor, in diesem Bereich zu sparen. "Wer glaubt, politisch punkten zu können, indem er Sozialpolitik gegen Zukunftsinvestitionen ausspielt, der wird in einem Land voller Klimaleugnern und Marktradikalen aufwachen", macht DGB-Chefin Yasmin Fahimi gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland deutlich.
Letztlich werden sich wohl alle Ampelkoalitionäre aufeinander zubewegen müssen. Die Stimmung in den Parteizentralen ist jedenfalls angespannt. Bei den Freidemokraten ist intern von einem "Wendepunkt" die Rede – wobei führende FDP-Politiker Forderungen zurückweisen, die Koalition notfalls auch platzen zu lassen. Ein Bruch der Koalition scheint auch deshalb unwahrscheinlich, weil er die Wahlchancen jeder der drei Parteien minimieren würde.
Mit dem aktuellen Urteil stehen zahlreiche Projekte auf der Kippe, die der Ampel – und insbesondere den Grünen – wichtig sind:
Auch Anreize, die für die Wirtschaft gesetzt werden sollten, um klimafreundlicher zu werden, dürften wegfallen. CDU-Verkehrsexperte Thomas Bareiß geht außerdem davon aus, dass der Preis des Deutschlandtickets deutlich steigen könnte. Er spricht von Summen bis zu 89 Euro.
Zugeständnisse in der Klima- und Energiepolitik sind gerade für die Grünen riskant – schließlich gelten sie für potenzielle Wähler:innen als Umweltpartei. Doch es gehe nicht allein um Klimaschutz, sondern auch um Arbeitsplätze, gerade in der Industrie, argumentieren Wirtschaftsminister Robert Habeck und die Parteichefs Omid Nouripour und Ricarda Lang seit dem Karlsruher Urteil.
Wohl verbunden mit der Hoffnung, dass das breite Unterstützung schafft. Die Botschaft: Nicht nur wir Grünen haben ein Problem, sondern alle. Schnelle Antworten haben aber weder Kanzler Scholz, noch Vizekanzler Habeck oder Finanzminister Lindner.
(Mit Material von dpa)