Acht Menschen tot, darunter der mutmaßliche Täter und ein ungeborenes Kind. Nachdem ein Mann in einem Gotteshaus der Zeugen Jehovas in Hamburg am Donnerstagabend ein Blutbad angerichtet hat, stellt sich die Frage: Hätte das alles verhindert werden können?
Werden Kirchen und religiöse Einrichtungen in Deutschland geschützt? Und gelten die Häuser Zeugen Jehovas überhaupt rechtlich als Gotteshaus?
Ein Überblick.
"Die Zeugen Jehovas haben den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts und sind damit als Religionsgemeinschaft staatlich anerkannt", erklärt der Rechtswissenschaftler und Experte für Religionsrecht Emanuel V. Towfigh auf Anfrage von watson. "Ihnen kommt also der gleiche rechtliche Status zu wie etwa den Großkirchen."
Viele bezeichnen die Zeugen Jehovas dennoch als Sekte – allerdings weder in der Forschung, noch im juristischen Sinne. "'Sekte' ist kein Rechtsbegriff und wird, weil er abwertend ist, von Jurist:innen inzwischen auch nicht mehr verwendet", erklärt Towfigh dazu.
In der Forschung spricht man meist von "fundamentalistischer Glaubensgemeinschaft", auch der Theologe und Sektenforscher Matthias Pöhlmann nutzt diesen Begriff auf watson-Frage.
Er erklärt außerdem:
Den Körperschaftsstatus besitzen die Zeugen Jehovas seit 2006 und sind damit rechtlich gesehen den christlichen Gemeinden gleichgestellt. Auch die evangelischen Landeskirchen und römisch-katholischen Bistümer sind öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften.
Mit dem Körperschaftsstatus dürften die Zeugen Jehovas auch Steuern erheben, was sie allerdings laut Pöhlmann nicht tun.
"Die Zeugen Jehovas wollen sich von den christlichen Kirchen massiv abgrenzen, weil man der Kirche vorwirft, dass sie nicht der wahren biblischen Lehre folgen", erklärt Pöhlmann. "Konflikte spielen immer wieder eine Rolle, weil es sich um ein geschlossenes Glaubenssystem handelt, in dem auch interner Druck und nicht zuletzt Sozialkontrolle vorherrschen." Um der Abgrenzung willen nutzen die Zeugen Jehovas also den Begriff "Königreichssaal" und nicht "Kirche".
Auch Annika Brockschmidt, Expertin für Fundamentalismus, schreibt auf Twitter, dass es sich nicht um Kirchen handelt und dass die Zeugen Jehovas diese Bezeichnung selbst so gewählt haben. Der Begriff Kirche sei demnach falsch gewählt. "Gotteshaus oder religiöse Einrichtung" passten demnach besser.
Selbst wenn der Ursprung der Zeugen Jehovas aus dem Christentum stammt, wird man in einem Königssaal laut Pöhlmann kein Kreuz finden. "Das lehnen sie als christliches Symbol ab". Königssäle sind Pöhlmann zufolge eher nüchtern gehaltene Versammlungsstätten. "Dort finden Vorträge statt, es werden Lieder gesungen, auch Gebete an Jehova gerichtet. Aber das Ziel ist es vor allem, die Mitglieder im Sinne des Wachtturms zu schulen."
"Der Wachtturm" ist die Zeitschrift der Zeugen Jehovas, indem die sogenannte leitende Körperschaft – diese besteht aus neun Geist-gesalbten, älteren Männern – Beiträge veröffentlicht.
Faktisch ist "Kirche" also der falsche Begriff. Rechtlich gesehen, haben die Säle allerdings den gleichen Status wie eine Moschee, eine Synagoge oder eine christliche Kirche.
Gar nicht, außer es liegt eine besondere Gefährdungslage vor, erklärt Towfigh. Das ist etwa bei Synagogen der Fall, weil sich der Antisemitismus in Deutschland weiter verbreitet und es bereits Anschläge und Anschlagsversuche gab. Der jüngste und vermutlich bekannteste Fall ist der versuchte Terroranschlag in Halle, bei dem der rechtsextreme Täter aus antisemitischen Gründen versuchte, in eine Synagoge einzubrechen und die Menschen darin zu ermorden. Er tötete bei seinem Versuch zwei Menschen.
Ansonsten werden Kirchen, Gebetshäuser oder religiöse Einrichtungen gleichermaßen nicht geschützt, wie der Religionsrechtsexperte erklärt. Und: "Liegen solche Anhaltspunkte vor, werden auch die Königreichssäle oder Bauten und Räumlichkeiten aller anderen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft geschützt – wie jedes andere Gebäude auch."
Pöhlmann meint zudem, ein umfassender Schutz wird wohl kaum gewährleistet werden können. Vor allem, wenn es darum geht, sich vor Taten wie der am Donnerstag zu schützen – also einem Amoklauf.
Er erinnert dabei an einen versuchten Amoklauf im Jahr 2009, bei dem ein älterer Mann mit einer Maschinenpistole eine Versammlung der Zeugen Jehovas in Bielefeld überfallen wollte. "Zum Glück ist ihm das nicht gelungen, weil die Waffe versagt hat", sagt Pöhlmann. "Der Mann wurde am Ende auch entsprechend verurteilt. Er wollte auch ein Blutbad anrichten."
Auch wenn die Zeugen Jehovas laut Pöhlmann von den christlichen Gemeinden als konfliktträchtig angesehen werden, drücken sie doch ihre Anteilnahme aus.
Auf Twitter schrieb das Erzbistum Hamburg: "In Hamburg sind mehrere Menschen Opfer eines brutalen Verbrechens geworden. Vieles ist noch unklar. Wir sind erschüttert. Gemeinsam beten wir." Auch der Generalvikar des Erzbistums äußerte sich auf Twitter: "Ich denke an alle, die angesichts dieser Tat bestürzt sind, und an alle, die jetzt anderen helfen", erklärte Sascha-Philipp Geißler.
Auch die Evangelische Kirche bekundete ihre Trauer.
Die Landesbischöfin der evangelischen Nordkirche, Kristina Kühnbaum-Schmidt, bekundete ebenfalls ihre Anteilnahme. "Die brutale Gewalttat in Hamburg entsetzt und erschüttert mich zutiefst. Mit Trauer und Mitgefühl denke ich an die Menschen, die in dieser Nacht aus dem Leben gerissen wurden", sagte Kühnbaum-Schmidt.
Viele Menschen bekundeten in den sozialen Medien ihr Beileid und drückten den Angehörigen der Opfer ihr Mitgefühl aus. Nachdem am Donnerstagabend jedoch die Information veröffentlicht wurde, dass es sich bei den Opfern des Amoklaufs um praktizierende Zeugen Jehovas handelte, starteten auf Twitter bereits Diskussionen über das vermeintliche Sektentum.
Die Polizei Hamburg bat daraufhin die Bürger:innen darum, keine Diskussionen zu starten und von Beleidigungen abzusehen.
Auch Brockschmidt verriegelte auf Twitter die Kommentarspalte ihres Tweets zur richtigen Bezeichnung des Königreichssaals, da es offenbar zu beleidigenden Inhalten gekommen war. "So, und weil es hier wieder unerträglich wird und Spekulationen und Beleidigungen rundgehen, werden die Kommentare zugemacht", schrieb die Expertin auf Twitter.