In Brasilien ist noch nichts entschieden. Wie Expert:innen prognostiziert hatten, hat es bei der Präsidentschaftswahl in dem südamerikanischen Land keine eindeutige Mehrheit für einen der beiden Kandidaten gegeben. Am 30. Oktober kommt es nun zu einer Stichwahl.
Die Prozentpunkte verteilten sich bei Weitem nicht so, wie erwartet: Der ehemalige Präsident Luiz Inácio "Lula" da Silva von der linksorientierten Arbeiterpartei PT erhielt 48,43 Prozent. Der amtierende Präsident Jair Bolsonaro dagegen nur 43,2.
"Trotzdem geht Bolsonaro gestärkt aus der ersten Runde", erklärt Anja Czymmeck auf Anfrage von watson. Sie leitet seit 2019 das Auslandsbüro Brasilien der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Czymmeck sagt, Bolsonaro schnitt deutlich besser ab, als es die Umfragen prognostiziert hatten, die "noch kurz vor der Wahl die beiden Kontrahenten mit einem Unterschied von mehr als zehn Prozentpunkten gesehen hatten".
Was bedeuten die Ergebnisse vor allem für junge Menschen? Ein Überblick.
Das Ergebnis bestätigt laut Czymmeck, dass die Wut vieler Brasilianer:innen auf Lula und dessen Arbeiterpartei noch nicht vergessen sei. Lulas Regierungszeit (2003 bis 2011) war von zahlreichen Korruptionsskandalen geprägt. Gleichzeitig sei es verwunderlich, dass Bolsonaros Politik der vergangenen Jahre nicht auf mehr Ablehnung gestoßen sei. Da wären etwa das schlechte Pandemiemanagement, das Abholzen des Regenwaldes, Angriffe auf demokratische Institutionen, Verherrlichung der Diktatur sowie frauenfeindliche und rassistische Aussagen.
"Zahlreiche ehemalige Minister seines Kabinetts und Verbündete konnten sich bei den Wahlen zum Senat, Gouverneursposten oder zum Abgeordnetenhaus durchsetzen", erklärt Czymmeck. "Das zeigt auch, dass die Rechte beziehungsweise ein ausgeprägter Konservatismus in Brasilien 2018 nicht zufällig Einzug in die brasilianische Politik hielten, sondern fest in der brasilianischen Gesellschaft verankert sind."
Bolsonaro könne sich vor allem auf die Agrarlobby, Militärs und evangelikale Kreise verlassen. Das sei "eine Klientel, bei der sein Werben für 'Gott, Heimat und Familie' erfolgreich verfängt – und das nicht nur in der reichen Ober- oder Mittelschicht, sondern auch in ärmeren Bevölkerungsgruppen".
Lula hingegen ist sich eines kommenden Sieges sicher: "Wir werden mit unseren Gegnern und unseren Freunden sprechen und sie davon überzeugen, dass wir die beste Option sind, um das Leben des brasilianischen Volkes zu verbessern", sagte er nach der Bekanntgabe des Ergebnisses.
Die genauen Daten liegen noch nicht vor. Laut Expert:innen sollen diese erst im Januar veröffentlicht werden. Die Brasilien-Expertin Czymmeck sagt, laut Umfragen würde die Mehrheit der jungen Menschen (51 Prozent) für Lula stimmen.
Laut Czymmeck umfasst die Altersgruppe zwischen 16 und 24 Jahren 29 Millionen Personen – das sind 19 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung Brasiliens. Czymmeck sagt dazu: "Die Stimmen dieser Wähler für sich zu gewinnen, könnte den Ausgang der Wahlen entscheidend verändern."
Um das junge Publikum zu erreichen, setzten die Kampagnenteams der beiden Kandidaten vor allem auf soziale Netzwerke. Doch Czymmeck sagt: "Sie treffen dabei aber nicht unbedingt den richtigen Ton." In Brasilien herrsche eine große Politikverdrossenheit. Den Menschen mangele es an Interesse für die Politik. Gleichzeitig fände eine Polarisierung der Gesellschaft statt – zwischen den Anhängern Lulas PT und der Bolsonaro-Partei PL. Deshalb brächten sich auch immer mehr Künstler:innen und Influencer:innen ins Wahlgeschehen ein.
So habe etwa die populäre Sängerin Anitta ihre Fans – darunter vor allem die Erstwähler zwischen 16 und 17 Jahren – dazu aufgefordert, sich im Wahlregister einzutragen. Diese Altersgruppe ist wahlberechtigt, aber von der Wahlpflicht befreit.
Czymmeck sagt:
Die Gruppe der jungen Menschen ist laut der Expertin am stärksten von der aktuellen Wirtschaftslage betroffen und litt zudem am meisten unter den sozioökonomischen Auswirkungen der Pandemie.
Das könnte an den Initiativen Lulas im Bildungsbereich liegen, meint die Expertin. Diese hätten sich auf das Leben von Millionen junger Menschen ausgewirkt. Etwa die Einführung von "ProUni", womit Voll- und Teilstipendien für grundständige Studiengänge und aufeinander aufbauende spezifische Ausbildungsgänge an privaten Hochschuleinrichtungen ermöglicht werden können.
Außerdem wurde ein Quotengesetz ins Leben gerufen, das Afrobrasilianer:innen und Indigenen den Zugang zu Unis erleichtern soll.
Lula habe sich auch für Austauschprogramme starkgemacht, was ebenfalls die Aufmerksamkeit der Jugendlichen auf die Seite Lulas ziehe, meint Czymmeck.
Bolsonaros Partei habe hingegen keine klaren Vorschläge für diese Altersgruppe. Anhänger:innen hat er trotzdem auch hier. "Vor allem, wenn sie aus einem eher konservativen, evangelikalen Milieu stammen", sagt Czymmeck. Und: "Sie werden durch die sozialen Netzwerke gezielt angesprochen. So gibt es auch dort Influencer, die treu zu seiner Partei und Politik stehen und diese unter jungen Leuten verbreiten."
Bolsonaro könnte zudem über einen anderen Weg versuchen, mehr Stimmen für sich zu gewinnen. Kurz nach der Wahl hat Bolsonaros Regierung die Auszahlung von Sozialleistungen vorgezogen. Die Familienhilfe etwa wird im Oktober eine Woche früher als vorgesehen ausgezahlt, wie die brasilianische Nachrichtenagentur "Agência Brasil" am Montag berichtete.
"Für junge Menschen in Brasilien ist entscheidend, welcher Präsident mehr für die Bildungspolitik tut", sagt die Expertin. Bolsonaros Regierung habe die Mittel im Bildungsbereich erheblich gestrichen – auch für Stipendien oder die Ausbildung von Lehrer:innen. "Sollte Bolsonaro an der Macht bleiben, fürchten viele, dass er keine Maßnahmen für eine Verbesserung der Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten umsetzt und die Mittel für das Bildungsministerium weiter streicht", sagt Czymmeck.
Und sie meint auch:
Keiner der beiden Kandidaten hat die erforderliche Marke von 51 Prozent erreicht. Deshalb muss Brasilien am 30. Oktober erneut zur Wahlurne – zu einer Stichwahl.
Expertin Czymmeck meint, Lula würde ein knapper Wahlsieg vorhergesagt. "Aber die Ergebnisse der ersten Runde zeigen, dass auf die Umfragen nicht zwingend Verlass ist. Bolsonaro erfuhr deutlich mehr Unterstützung als erwartet, was sicherlich damit zusammenhängt, dass viele Wähler bei den Umfragen nicht bereit waren, ihre tatsächliche Präferenz kundzutun."
Bolsonaro hingegen bleibt optimistisch. "Konzentriert bleiben!", schreibt er etwa auf Twitter. Man habe bereits eines der wichtigsten und schwierigsten Ziele erreicht. "Wir haben bereits alles, was nötig ist, um Brasilien von dem Autoritarismus, der Erpressung und der Ungerechtigkeit zu befreien, die uns so entwürdigen."
Auch wenn die Umfragen auf einen Sieg Lulas bei der Stichwahl deuten, seien unerwartete Wendungen in den kommenden Wochen nicht auszuschließen, meint Czymmeck. Bolsonaro hatte zudem in der Vergangenheit immer wieder angebliche Wahlfälschungen beklagt, daher sei unklar, ob er eine mögliche Niederlage anerkennen wird.