Bevor Malu Dreyer schlafen geht, packt sie ihre Sorgen in ein Marmeladenglas. Das löst zwar keine Probleme, aber es hilft ihr, mit Nöten und Sorgen umzugehen. Weil sie die Dinge gerne ablegt, wie sie es einmal formulierte, statt die ganze Nacht darüber zu grübeln.
Zum Grübeln bringt die Vize-Vorsitzende der SPD und Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz heute vor allem politische Gegner und Genossen gleichermaßen. CDU-Frau Julia Klöckner beispielsweise, die ihr Glück mittlerweile in Berlin versucht, weil zuhause gegen Dreyer nichts zu holen ist. Oder Dreyers SPD selbst: Weil sie so etwas wie ein Relikt längst vergessener Zeiten ist – die vielleicht letzte Sozialdemokratin, die gegen den Bundestrend Wahlen gewinnen kann.
Malu Dreyer kommt 1961 als Maria Luise Anna in Neustadt an der Weinstraße zur Welt. Der Vater Schulleiter, die Mutter Erzieherin. Sie studiert Jura und tritt erst mit 33 in die SPD ein. Vor sechs Jahren wird sie Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz – als erste Frau überhaupt.
Dreyer tritt ein sehr männliches Erbe an. Kurt Beck, der schon physiognomisch so ziemlich alles vereint, was Rheinland-Pfalz verkörpert, macht Dreyer zu seiner Nachfolgerin. 2016 verteidigt sie ihr Amt und führt seither eine Dreierkoalition aus SPD, Grünen und FDP an. Ab da schaute auch Berlin genauer hin. Lange wurde die Ampel-Koalition als Modell für den Bund gehandelt. 2016 dann bring ihr der geplatzte Verkauf eines Flughafens ein Misstrauensvotum ein. Eine Mehrheit der Abgeordneten spricht ihr das Vertrauen aus, sie übersteht die vielleicht schwierigste Zeit ihrer noch jungen politischen Karriere.
1995 spürt sie beim Inlineskaten, dass etwas nicht stimmt. Es kribbelt in Armen und Beinen. Ein Arzt vermutet Multiple Sklerose, eine nicht heilbare Nervenkrankheit, die in Schüben verläuft. Die Diagnose bestätigt sich. Malu Dreyer beschreibt diesen Tag später als einen kleinen "Weltuntergang". Sie habe sich hingesetzt und geweint. "Ich wusste gar nichts. Man nennt Multiple Sklerose auch die Krankheit der tausend Gesichter. Ich brauchte Monate, bis ich mir klar darüber wurde, was auf mich zukommen kann", sagte sie der Zeit. Damals habe sie nicht gewusst, wie es weitergehen soll. Malu Dreyer ist da gerade Bürgermeisterin von Bad Kreuznach.
Ihr Erkrankung behält sie für sich. Es dauert elf Jahre bis sie die Diagnose öffentlich macht – und ein Tabu bricht. Auch weil das Gehen immer schwerer fällt, die Krankheit langsam sichtbar wird. Vor allem aber, weil sie die Kontrolle zumindest über den Umgang mit der Krankheit haben will, wenn sie sich schon eingestehen muss, die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren. Heute nutzt sie für weitere Wege den Rollstuhl oder ein Elektromobil. Heute kann sie über ihre Krankheit reden. Und sie macht das, um anderen Mut zu machen. Weil diese Krankheit so wenig fassbar ist, weil die Verläufe so unterschiedlich sind, weil es für Menschen mit Multiple Sklerose bis heute so wenig Positivbeispiele gibt.
Malu Dreyer lebt Inklusion. Sie wohnt mit Ihrem Mann in einem integrativen Wohnprojekt, dem "Schammatdorf". Dort leben Familien, Singles, Menschen mit und ohne Behinderung, Alte und Junge gleichermaßen. "Man hilft sich gegenseitig, ist füreinander da, und das hilft am Ende allen, denn jeder kann mal in die Situation kommen, dass er Hilfe braucht."
Malu Dreyer hat ein "unerschütterliches Vertrauen in Gott". Sie nutzt eher den direkten Draht, als den Umweg über die Institutionen. Die Katholikin ist sogar mal aus der Kirche ausgetreten, "weil alle so frauenfeindlich waren". Auch beim Thema "Ehe für alle" geriet Dreyer mit ihrer Kirche aneinander. Die Diskussion sei keine leichte gewesen, weil in Rheinland-Pfalz die Bischöfe sehr skeptisch waren. "Ich bin selber Katholikin, aber zu meinem Menschenbild passt das nicht." Der Gesetzentwurf zur "Ehe für alle" stammt im Übrigen aus Rheinland-Pfalz, wurde bereits bereits 2013 in den Bundesrat eingebracht. Das Thema war Dreyer immer wichtig, weil es ihrem Gerechtigkeitsempfinden widersprach, dass homosexuelle Menschen nicht heiraten dürfen. "Unsere Gesellschaft profitiert, wenn Menschen füreinander einstehen", sagt sie.