Politik
Interview

Ostbeauftragter Carsten Schneider über junge Menschen, Kraftklub und die AfD

Carsten Schneider ist der Ostbeauftragte der Bundesregierung
Als Ostbeauftragter der Bundesregierung ist Carsten Schneider (SPD) viel in Ostdeutschland unterwegs. Bild: watson / rebecca sawicki
Interview

"Viel zu oft begeben sich Ostdeutsche in eine Opferrolle, in die sie nicht gehören"

Als Ostbeauftragter der Bundesregierung nimmt Staatsminister Carsten Schneider (SPD) auch eine Vermittlerrolle ein.
25.03.2024, 13:15
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watson: Verzweifeln Sie manchmal an Ostdeutschland, Herr Schneider?

Carsten Schneider: Es gibt gute und schlechte Tage. Ich bemühe mich, den Menschen Mut zu machen und sie daran zu erinnern, was sie seit der Wende geschafft und sich aufgebaut haben. Viel zu oft begeben sich Ostdeutsche in eine Opferrolle, in die sie nicht gehören. Ich wünsche mir, dass die Ostdeutschen selbstbewusster werden. Miesepetrig durchs Land zu laufen, hilft jedenfalls nicht weiter.

Wo kommt diese Miesepetrigkeit her?

In den vergangenen Jahrzehnten gab es relevante politische Kräfte, die den Osten in extremer Weise schlechtgeredet haben, um davon zu profitieren. Früher war das die Linke, heute ist es die AfD. Diese Art von Erzählungen bedienen auch bekannte Stereotype. Dann werden Ostdeutsche schnell pauschal als Nazis beschrieben.

Sind sie das?

Nein. Gegen diese Stereotypisierung wehre ich mich. Es gibt vieles, was wir geschafft haben, worauf die Menschen stolz sein können.

Zum Beispiel?

Sie haben sich friedlich, aber entschlossen Freiheit und Demokratie erfolgreich erkämpft. Sie haben sich von dem umfassenden Wandel der Nachwendezeit nicht umhauen lassen und einen, wenn auch oft bescheidenen, Wohlstand aufgebaut. Auch in Sachen Nachhaltigkeit hat sich viel bewegt: Der Osten ist von einer Kohleregion zum Großproduzent Erneuerbarer Energien geworden.

Ihre Position gibt es, weil offensichtlich noch nicht alles rosig ist. Wie sieht Ihre Vision des Ostens aus?

Das, was ich beeinflussen kann, sind die harten Fakten: Wirtschaftliche Ansiedelung, Förderungen und neue Arbeitsplätze. Da ist der Osten mit Tesla in Brandenburg, Intel in Magdeburg, TSMC in Dresden und weiteren Unternehmensansiedlungen auf einem guten Weg.

Der Ausdruck Ostbewusstsein hat seit einigen Jahren Konjunktur. Können Sie verstehen, dass Nach-Wende-Generationen eine Ost-Identität haben?

Das hat mich zunächst auch verwundert. Viele erfahren das, wenn sie zum Beispiel zum Studieren in den Westen gehen und dann dort als Ossi bezeichnet werden. Dazu kommt, dass Menschen offenbar ein negatives Selbstbild übernehmen, wenn man es ihnen lange genug einredet. Mittlerweile bedeutet ein Ostbewusstsein für mich aber eher eine Normalisierung.

Inwiefern?

Die Süddeutschen sind Süddeutsche, die Norddeutschen Norddeutsche, Mecklenburg-Vorpommern ist Nord- und Ostdeutsch und bei uns in Thüringen vermischt sich vieles. Aber der Osten hat auch eine gemeinsame Erfahrung: neben dem Leben in der DDR vor allem das Gefühl der sozialen Unsicherheit verbunden mit dem Aufbruch in die Freiheit. Das hat zu dieser regionalen Identität geführt.

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Sie sprechen sich für ein Grunderbe aus. Ist das eine Möglichkeit, die Vermögenslücke zwischen Ost und West zu schließen?

Es ist eine Möglichkeit, die Lücke zwischen Arm und Reich zu verringern. Das betrifft nicht nur Ostdeutsche, sondern zum Beispiel auch Kinder aus Familien mit Migrationserfahrung.

Was erwarten Sie von dem Erbe?

Es geht um Freiheit und um Sicherheit, darum, dass junge Menschen einen leichteren Start nach der Schule ins Berufsleben haben. Oder sich auch ein Studium zutrauen, unabhängig vom Einkommen der Eltern. Dabei können wir den jungen Menschen vertrauen. Die wissen schon, was sie mit dem Geld anstellen wollen.

Finanzieren würden Sie dieses Erbe über Steuern auf reiche Erbschaften?

Große Erbschaften sollten stärker besteuert werden. In den kommenden Jahren werden Milliardenvermögen weitergeben, nur durch die Geburtslotterie. So könnte ein Grunderbe auch unsere Demokratie stärken. Denn das Versprechen von Demokratie bedeutet nicht nur, dass deine Stimme zählt – es bedeutet auch Chancengleichheit und das Versprechen, dass sich individuelle Anstrengungen auszahlen.

Monetäre Ungleichheit und miesepetrige Ostdeutsche: Was bedeutet das für junge Menschen im Osten?

Ich hoffe, dass sie selbstbewusst und selbstständig aufwachsen und sich nicht anstecken lassen, von dem in Teilen vorhandenen Frust. Mehrheitlich nehme ich aber wahr, dass viele junge Menschen die Chancen sehen, die der Osten nun hat. Viele haben heute einen selbstbewussteren Umgang mit ihrer ostdeutschen Herkunft, ohne sie als Abgrenzung zu verstehen.

Was meinen Sie mit abgrenzend?

Ohne, dass es eine Abgrenzung gegen den "bösen" Westen gibt. Und ohne dabei nach unten zu treten, was leider schnell passiert, wenn Menschen sich gegängelt fühlen. Ein chauvinistisch-rechtsextremes Weltbild gibt es aber teilweise leider auch.

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Demos gegen rechts finden auch in Ostdeutschland in großer Zahl statt, wie hier in Leipzig.Bild: imago images / EHL Media

Umfrageergebnisse legen nahe, dass die AfD bei den anstehenden Ost-Wahlen Rekordergebnisse erzielen könnte. Wie gehen sie damit um?

Die AfD ist auch bei den Erstwählern stark. Das hat auch was mit polarisierender Social-Media-Kommunikation zu tun, zum Beispiel auf Tiktok. Auch habe ich den Eindruck, dass Jugendliche weniger gegen ihre Eltern rebellieren als früher und eher deren politische Ansichten übernehmen. Ich versuche daher, jedem Menschen offen zu begegnen und herauszufinden, was der eigentliche Grund für die schlechte Laune ist. Außerdem will ich Vertrauen herstellen.

Wie machen Sie das?

Viele sind in die Welt der Verschwörungserzählungen abgetaucht. Ein nicht unerheblicher Anteil glaubt, die Regierung sei von fremden Mächten gesteuert. Das ist totaler Quatsch. Ich bin frei gewählt und hoffe auf den Zuspruch der Menschen vor allem auch in meinem Wahlkreis in Weimar und Erfurt. Wenn ich Menschen persönlich kennenlerne, mit ihnen in den Austausch gehe, hilft das ungemein.

Wie kann man verhindern, dass junge Menschen die politische Einstellung ihrer Eltern 1:1 übernehmen?

Durch politische Bildungsarbeit, Gespräche und kritische Nachfragen. Ich will ihnen im Austausch zeigen, dass sie selbst ihren Teil zu unserer Demokratie beitragen können: in Parteien eintreten, beim Wahlkampf helfen, selbst kandidieren.

Eine Erhebung des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts zeigt, dass die Mehrheit der Ostdeutschen genau damit fremdeln. Wie kann sich dieser Demokratie-Verdruss auf die anstehenden Wahlen auswirken?

Ich hoffe, dass viele Menschen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Jeder, der sich Sorgen macht, sollte das tun. Es stehen nicht nur die Landtagswahlen an, sondern auch zahlreiche Kommunalwahlen.

Sehen Sie bei den jungen Menschen, die Sie treffen, solche Bestrebungen?

Ja. In Freiberg gibt es beispielsweise eine Bürgerbewegung, die dort seit Jahren Demos organisiert. Von denen wollen jetzt mehrere bei der Kommunalwahl antreten. Sie sind dort bekannt, das zählt bei Kommunalwahlen meist mehr als die Partei.

Sind Sie bei den Kommunalwahlen mit Blick auf das mögliche AfD-Wahlergebnis zuversichtlicher als bei den Landtagswahlen?

Bei den Landtagswahlen spielt Parteipolitik eine größere Rolle. Wer aus Protest die AfD wählen will, sollte sich genau überlegen, ob er oder sie mit den Folgen dieser Wahl leben will. Nur Regionen, die attraktiv sind, wo ein offenes Klima herrscht, wo Menschen gerne hinziehen, werden in den nächsten Jahren weiter einen wirtschaftlichen Aufschwung haben.

Wird die Brandmauer in einem Ost-Land zuerst kippen?

Ich setze ich auf die Vernunft der Wählerinnen und Wähler. Sollte die CDU mit der AfD kooperieren, wäre das ein schlimmer Tabubruch, der unsere Demokratie nachhaltig erschüttern würde.

Sehen Sie das Potenzial?

Im Gegensatz zu den anderen Parteien kann man sich bei einigen in der CDU nicht sicher sein. In Thüringen sehen wir, wie die AfD schon jetzt für CDU-Anträge stimmt. So könnte das auch bei der Wahl des nächsten Ministerpräsidenten sein.

Auch im Osten gehen Menschen gegen rechts auf die Straße. Welche Unterstützung bräuchten die Aktivist:innen vor Ort?

Eine differenzierte Betrachtung Ostdeutschlands und mehr Respekt. Es ist viel schwieriger und mutiger, sich dort zu zeigen, wo die Demonstrierenden eine Minderheit darstellen. Es ist wie die Chemnitzer Band Kraftklub singt: "Und 'Nazis raus!' ruft es sich leichter, da, wo es keine Nazis gibt. Doch Wittenberg ist nicht Paris."

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Künstler:innen wie Kraftklub geben vielen Menschen im Osten eine Stimme.Bild: imago images / Arvid Müller

Können ostdeutsche Künstler:innen, wie Kraftklub, dabei helfen, die Wahrnehmung zu ändern?

Ohne Kraftklub wäre Chemnitz womöglich nicht die europäische Kulturhauptstadt 2025 geworden. Und das ist nicht alles: Die Künstler sind wichtige Orientierungspunkte im Kampf um Ostdeutschlands Zukunft. Es gibt viele Sachsen oder Thüringer, die es eben nicht so sehen wie diejenigen, die seit Jahren schlechte Laune verbreiten. Jetzt geht es darum, sich gemeinsam für eine offene Gesellschaft mit Perspektiven einzusetzen.

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