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Interview
02.08.2018, 12:3002.08.2018, 13:11
anne-kathrin gerstlauer und peter riesbeck
Ricarda Lang, 24, ist Vorsitzende der Grünen Jugend. Ein Interview über #fatshaming, Sexismus und alltäglichen Rassismus rund um #MeTwo,
Frau Lang, wie kam es zu diesem Tweet?
Ich
saß in der Bahn, gegenüber saßen eine Frau und ein Mädchen, so zehn Jahre alt.
Das Kind griff nach einer Tüte mit Keksen, die auf dem Tisch stand. Die Frau
tätschelte ihm auf den Bauch und sagte leicht scherzhaft: ‚Na, ob das so gut
ist?!‘ Das hat mich an eigene Erfahrungen erinnert. Ich war als Kind und
Jugendliche schon dicker und hab‘ öfter die Erfahrung gemacht, dass genau
solche Sprüche von Bekannten, aus der Familie, in der Schule kommen, die in
erster Linie nicht böse gemeint sind, aber doch ein bestimmtes Körperideal
transportieren und sehr verletzend wirken. Gerade Mädchen wird so vermittelt, du
bist weniger liebenswert, wenn du dick bist. Auch der Akt des Essens wird mit
Scham und Ekel verbunden.
Das ist total schädlich, weil viele Jugendliche mit Minderwertigkeitsgefühlen aufwachsen und lernen, sich selbst zu hassen.
Es gibt die Bewegung hin zu Body Positivity. Glauben Sie, da bewegt sich
was in der Gesellschaft?
Es
gibt sehr viele positive Entwicklungen, immer mehr dicke Frauen treten
öffentlich auf und lassen sich nicht einreden, dass sie sich für ihren Körper
schämen müssen. Auch in den sozialen Medien. Auf Instagram wird selbstbewusst
Mode für fette Frauen angeboten, da denke ich immer: Cool, wenn es das gegeben
hätte, als ich 14 war, das wäre für mich total empowernd gewesen.
Dennoch muss man sehen: Gleichzeitig haben gerade in den sozialen Medien auch
Hate Speech und die offene Anfeindung von Frauen, die nicht dem klassischen
Schönheitsideal entsprechen, extrem zugenommen.
Ist Ihnen das schon selbst passiert?
Ja.
Und wird das dann vermischt mit politischen Äußerungen?
Ja.
Egal, zu was ich mich äußere: Kohlekraft, Schule, Finanzpolitik, bekomme ich
gerade auf Twitter und Facebook Kommentare, die sich auf meinen Körper
beziehen. Das reicht von vermeintlich gut gemeinten Gesundheitsratschlägen bis
hin zu widerlichen Beleidigungen.
Und wie gehen Sie damit um?
Ich
habe mich entschieden, offen darüber reden. Ich hab‘ dafür ein bisschen
gebraucht, weil ich das Gefühl hatte, gesteh' bloß keine Schwäche ein und gib
den Trollen keine Aufmerksamkeit. Irgendwann habe ich gemerkt, eigentlich
gewinnen die, wenn mich zurückziehe und mich in meiner politischen Aktivität
einschränke.
Deshalb gehe heute ich offen damit um, auch um anderen Frauen zu zeigen, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein sind.
Und wie ist das im privaten Umfeld?
Ich
glaube, es nützt niemandem was, die Dinge schön zu reden, und so zu tun, als ob
es im Grünen-Kontext nicht auch Sexismus gäbe. Wir sind nicht frei von
gesellschaftlichen Strukturen. Aber es gibt eine andere Offenheit und
Bereitschaft, sich bewusst damit auseinanderzusetzen. Ich habe – gerade im
privaten Umfeld – viel Zuspruch für den offenen Umgang mit diesen Themen
erfahren.
Essen ist ein sensibles Thema. In Kitas wird
gebeten, keine Süßigkeiten mitzubringen. Erleben Sie eine Radikalisierung des
öffentlichen Raums?
Es
gibt schon ein stärkeres Bewusstsein für Gesundheit. Ich finde es auch gut,
dass bestimmte Verbraucherschutzregeln zugenommen haben, wie die
Lebensmittelampel und ähnliches. Problematisch wird es dann, wenn diese Regeln
mit der Abwertung von bestimmten Körpern verbunden werden. Also geht es darum:
Fühlst du dich besser, wenn du dich gesund ernährst – oder um den Punkt: Du bist nicht attraktiv, wenn du zu dick bist. Das sollte man trennen.
Was würden Sie Eltern raten?
Erstmal zeigen, das Kind ist gut
so, wie es ist. Da war meine Mutter vorbildlich. Dann lässt sich auch über
Gesundheit und bestimmte Regeln rund um das Thema Essen reden. Es gibt ja auch
andere Regeln, wie Bettzeiten, die erklärt werden müssen.
Würden Sie die Einführung einer Zuckersteuer begrüßen?
Ja, Unternehmen in die Verantwortung zu nehmen für gesunde Ernährung
widerspricht mich nicht dem Kampf gegen gesellschaftliches #fatshaming.
In der Politik wird der Körper bewusst eingesetzt. Jungs
demonstrieren Leistungsfähigkeit, Joschka Fischer lief als Außenminister stolz
den Marathon. Heiko Maas ist Triathlet und postet vor der UN-Sitzung Fotos vom
Joggen im Central Park? Wie politisch ist der Körper
Was
wir hier stark erleben ist Körperlichkeit als Ausdruck Leistungsfähigkeit. Das
spiegelt eine neoliberale Logik von Selbstoptimierung wider. Ich bin meine
Ich-AG und muss mich selbst perfektionieren für die Arbeit, für die
Gesellschaft. Das geht auch an Politkerinnen nicht spurlos vorbei.
Emmanuel
Macron, Barack Obama – müssen Politiker Posterboys sein, wenn sie Popstars sein
wollen?
Ich
glaube nicht, dass Aussehen etwas über die politische Kompetenz aussagt.
Politikerinnen sollten Leidenschaft für ihre Ideen zeigen, und andere davon
begeistern können. Das Aussehen sollte da nicht der ausschlaggebende Faktor
sein.
Ist das so oder wünschen wir uns das?
Wenn wir ein Ideal haben, das wir uns wünschen, dann ist das auch ein Ideal
für das es sich zu kämpfen lohnt.
Wir zeigen Politiker, Ricarda Lang antwortet
Bild 1: Cem Özdemir, Grünen Ex-Chef
Ricarda Lang: Das
sieht erstmal gesund aus. Parteitagsessen ist nicht immer erfreulich
Toni Hofreiter, Grünen-Fraktionschef
Ricarda Lang: Das
ist ein obligatorisches Politikerbild. Das aktive Zeigen vor Ort.
Konstantin von Notz, Grünen-Abgeordneter
Ricarda Lang: Ich
bin großer Fan von Konstantin von Notz auf Instagram. Er bringt Politikerbilder
immer mit einem bestimmten Witz rüber.
Konstantin von Notz (immer noch Abgeordneter)
Ricarda Lang: Weitblick!
Katrin Göring-Eckardt, Grünen-Fraktionsvorsitzende
Ricarda Lang: Da
fällt mir nicht viel zu ein. Hotelzimmer?!
Robert Habeck, Grünen-Chef
Ricarda Lang: Ein
sehr schönes Grünen-Foto. Aber mit Augenzwinkern.
Robert Habeck, immer noch Grünen Vorsitzender
Ricarda Lang: Erinnert
mich an das Waldtheater, in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin.
Was wäre denn Ihr Motiv?
Ich
hab zuletzt viele Pride-Bilder gepostet, da ich auf vielen CSDs unterwegs war.
Ich mag es auch, einen gewissen Hedonismus zu zeigen. Politik ist oft hart, aber
es geht auch um Spaß, Genuss und Lebensfreude.
Grünen Ko-Chef Robert Habeck tourt derzeit mit einer Patriotismustour
durch Deutschland. Er besucht Orte der 1848er-Revolution wie Raststatt aber
auch nationalaufgeladene Orte wie die Wartburg oder das Hermanns-Denkmal.
Das hat es mit der Sommertour auf sich
Auch Politiker machen Urlaub. Aber nicht unbedingt Ferien von der Politik. Sommertour werden diese Reisen an die Basis genannt. Der neue Grünen-Chef Robert Habeck entschied sich dieses Jahr für eine Zeile aus der Nationalhymne. Unter dem Motto "des Glückes Unterpfand" besucht er historische Orte vom Hermanns-Denkmal in Westfalen zur Erinnerung an die Schlacht gegen die Römer (und Zivilisation) im Teutoburger Wald über die Wartburg (wo Luther die Bibel ins Deutsche Übertrug) bis ins badische Raststatt, einem Hauptort der Revolution von 1848. Habecks Motiv: Er will das Thema Patriotismus nicht den Rechten überlassen. Nicht alle sind damit glücklich.
Gibt
es für die Grünen beim Thema Patriotismus was zu gewinnen?
Nein. Patriotismus ist kein Terrain, auf dem die Grünen gewinnen können. Patriotismus,
genau wie der Heimatbegriff, sind ganz klar konservativ geprägte Begriffe. Ich
begreife nicht, warum wir uns von den Rechten dazu drängen lassen sollten, konservative
Konzepte zu verteidigen, statt ihnen neue, eigene Gegenentwürfe entgegenzusetzen.
Ich finde die Anliegen der Tour sinnvoll, gerade auch den Ansatz von Annalena Baerbock Orte mit schwacher Infrastruktur zu besuchen, an denen sich die Frage von gesellschaftlichem Zusammenhalt ganz akut stellt. Aber ich verstehe nicht, warum man diese Anliegen als Grüne über die Nation herleiten sollte.
Beim Patriotismus ganz vorn, bei IGTV muss Grün noch ein bisserl üben
Lohnt
es sich nicht, einer Umwertung historischer Orte und ihrer Werte
entgegenzutreten?
Republikanische
Orte wie Rastatt oder die Paulskirche zu besuchen, ist interessant, aber der
Bedeutungsrahmen, der mit dem Motto "Des Glückes Unterpfand" aufgemacht wird,
ist falsch.
Es geht nicht darum, aus der Nation für die Nation etwas herzuleiten, sondern Universalismus neu zu besetzen.
Universalismus? Liebe Grüne, geht das auch einfacher?!
Wem stehen eigentlich welche Rechte zu? Die Juristen unterscheiden zwischen Bürgerrechten (sie stehen jedem Deutschen zu, etwa das Wahlrecht ab 18) und Menschenrechten – sie stehen allen zu qua Menschsein, unabhängig vom Pass oder Geburtsort. "All men are created equal" – alle Menschen sind gleich geboren, heißt es in der US-Verfassung von 1776. Die Französische Revolution proklamierte 1789 die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte": Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das Grundgesetz postuliert sich 1949 in Artikel 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Die weltumspannende Gültigkeit dieser Menschenrechte nennen Politologen Universalismus.
Was verstehen Sie unter dem großen Wort
Universalismus?
Es
ging bei den republikanischen Bewegungen seit der französischen Revolution um
Gleichheit und Freiheit. Progressive linke Politik setzt da an, wo diese Werte
zwar formal ausgesprochen, aber tatsächlich nicht umgesetzt werden. Wir müssen
Wege zeigen, dieses universelle Versprechen auch wirklich einzulösen: mehr
Gerechtigkeit schaffen, mehr soziale Teilhabe, die auch individuell mehr
Selbstwertgefühl schafft. Dass die Menschen nicht mehr so krass auf kollektive
Identitätsangebote für ihre Selbstwertbestimmung angewiesen sind.
Das klingt schön, wie lässt sich das
konkret auf die politische Alltagsagenda in Deutschland übersetzen?
Es
gibt ein paar Forderungen, die das gut zum Ausdruck bringen:
- Kostenloser Nahverkehr etwa. Es geht darum, dass der Staat allen Menschen die Teilhabe am sozialen Leben ermöglicht.
- Andere Forderung: Abschaffung von Hartz-IV-Sanktionen finde ich wichtig, um zu zeigen, dass jeder Mensch unabhängig von Lohnarbeit ein würdevolles Leben verdient hat.
- Mehr Investitionen in soziale Infrastruktur, vor allem im ländlichen Raum. Da bluten ganze Dörfer aus.
- Und ganz wichtig: Wohnungspolitik.
Das reicht von einer Mietpreisbremse, die auch angezogen wird, da wo es notwendig wird, auch auf Enteignungen zurückgreifen, ein starker Ausbau von öffentlichem Wohnungsbau und ein Verkaufsstopp öffentlicher Wohnung. Wohnen ist ein Recht und keine Ware.
Die Debatte ums Grundeinkommen
Da fehlt jetzt das Grundeinkommen?
Ich
halte das für eine spannende Idee, aber es gibt die Tendenz, darin ein
Allheilmittel zu sehen. Davor würde ich warnen. Die Entkopplung von würdevollem
Leben und Leistungsarbeit ist aber begrüßenswert.
Der politische Raum erlebt eine zunehmende Polarisierung? Wie nehmen
Sie die Diskussion um Mesut Özil und die #MeTwo-Debatte wahr?
Die Debatte hat viele
gesellschaftliche Entwicklungen offengelegt. Auf der einen Seite finde ich die
Kritik an dem Foto notwendig. Da fand ich auch Özils Statement nicht klar genug,
er posierte schließlich mit einem Autokraten. Das Problem war aber, dass die
Debatte nicht geführt wurde unter dem Stichwort, ist das demokratisch oder
nicht, sondern ist er deutsch oder nicht. Also wieder eine Identitätsdebatte,
bei der es in erster Linie um Ausgrenzung und die Rationalisierung
rassistischer Argumentationsmuster ging.
Deutsch ist aber nicht gleich demokratisch, wie die AfD jeden Tag beweist. Oder Lothar Matthäus, wenn er mit Putin posiert. Da gab es jedoch keinen öffentlichen Aufschrei.
Lässt sich aus der Debatte auch etwas lernen?
So vergiftet
diese Debatte war, wurde sie immerhin Ausgangspunkt für eine gesellschaftlich
wichtige Diskussion. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir Rassismus nur bei
den Rechten suchen. Rassismus reicht, gerade in der Form des Alltagsrassismus,
in alle Teile der Gesellschaft. Davor haben viele in den vergangenen Jahren die
Augen verschlossen.
Die AfD ist nur so erfolgreich, weil sie an Vorurteile appelliert, die viel breiter in der Gesellschaft getragen sind.
Rassismus im Alltag #MeTwo
Glauben Sie denn das die Debatte etwas verändern kann, gerade mit Blick
auf #MeTwo?
Ich würde es mir wünschen. Es gab
vor ein paar Jahren ja schon mal eine Debatte unter dem Stichwort ,Schau hin‘.
Die Reaktionen habe ich damals als weniger ignorant wahrgenommen. Jetzt ist die
Abwehrhaltung ja unglaublich stark, etwa wenn Außenminister Maas erklärt, die
Debatte schade dem Ansehen Deutschlands in der Welt. Nicht #MeTwo schadet dem
Ansehen, sondern Rassismus.
Und
ist es Ihnen schon mal passiert?
Bei
sexistischen Ausfällen auf jeden Fall. Slut Shaming, also Frauen schlecht
machen, die ihre Sexualität offen ausleben, da habe ich mich in meiner Jugend
auch aktiv daran beteiligt. Da ging es um überkommene Vorstellungen, wie
Frauen mit ihrer Sexualität umzugehen haben. Und ich habe mich auch schon
erwischt, wie mein erster Gedanke ‚Ah, wirklich?‘ war, wenn mir eine Person of
Colour erzählte, dass sie aus Darmstadt kommt. Ich halte nichts davon, so zu
tun, als wäre man selbst total unbeeinflusst von gesellschaftlichen
Herrschaftsverhältnissen oder stünde da total drüber.
Wir sind alle in der Gesellschaft rassistischen und sexistischen Denkmustern aufgewachsen. Auch ich als Grüne. Die Frage ist, reproduzier‘ ich sie oder hinterfrage ich sie, reflektiere ich mein Verhalten und setze ich mich politisch für Veränderungen ein.