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Kleve: Zu Unrecht inhaftierter Syrer stirbt in Haft – was wir wissen

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Ein zu Unrecht inhaftierter Syrer verbrennt in seiner Zelle – was wir wissen

19.10.2018, 17:22
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Ein junger Syrer sitzt am Niederrhein monatelang im  Gefängnis. Zu Unrecht, die Behörden haben ihn mit einem anderen verwechselt. Am 17. September bricht in seiner Zelle, Nummer 143, ein Feuer aus. Der Mann erleidet lebensgefährliche Verletzungen und stirbt am 29. September schließlich in einer Bochumer Klinik.  Von Suizid ist die Rede, er soll sich selbst angezündet haben. In seiner Zelle sei ein verkohltes Feuerzeug gefunden worden, heißt es später. Doch nun berichten Medien von Dokumenten, die an diesem Motiv zweifel aufkommen lassen.

Die JVA in Kleve
Die JVA in KleveBild: dpa

Das sind die Fakten:

  • Der 26-Jährige war am 6. Juli bei einem Polizeieinsatz wegen Beleidigung aufgefallen. Als die Beamten auf der Wache seine Personalien checkten, soll er im Fahndungssystem als Aliasname einer anderen Person aufgetaucht sein.
  • Der eigentliche Gesuchte aus Mali hatte sich mit dem Namen ausgegeben, den auch der Syrer trug. Dieser Name war neben dem richtigen Namen des Gesuchten als Aliasname in einem Haftbefehl aus Hamburg vermerkt.
  • Den Mann aus Mali suchte die Hamburger Staatsanwaltschaft mit zwei Haftbefehlen wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe wegen Diebstahls.
  • Der eigentliche Täter Amedy G. aus Mali sieht dem Syrer Amed A. nicht einmal ähnlich. Aber Amed wurde festgenommen. Er kam zuerst in ein Gefängnis in Geldern und dann in die Klever Justizvollzugsanstalt (JVA).
  • Noch im Juli hatte die Hamburger Staatsanwaltschaft laut eigener Aussage nachgefragt, ob die Identität des Festgenommenen tatsächlich geklärt sei. Das sei Routine. Die Frage sei aus Kleve mit "Nein" beantwortet worden – freigelassen wurde der Syrer dennoch nicht. Die Hamburger hätten daraufhin noch einmal nachgehakt, sagte eine Sprecherin: Auf welcher Basis der Syrer festgehalten werde, habe man wissen wollen. Was aus dieser zweiten Nachfrage wurde, sei derzeit unklar.
  • Trotzdem fiel die mutmaßliche Namensverwechselung wochenlang nicht auf. Polizisten haben es versäumt, die Identität des 26-Jährigen näher zu überprüfen.
  • Mehr als zwei Monate lang saß der Syrer zu Unrecht im Gefängnis.
  • Die Behörden räumten später ein, dass sie den 26-jährigen Syrer mit dem Gesuchten aus Mali verwechselt hatten.
  • Erst am 28. September entschied die Staatsanwaltschaft Hamburg, dass der Syrer aus der Haft entlassen werden soll – da lag der 26-Jährige bereits im Koma und starb nur einen Tag später an seinen Brandverletzungen.
  • Nachdem der Fall bekannt geworden war, hieß es, der Syrer habe das Feuer vermutlich selbst gelegt.
Die Tür zur Zelle 143 in der Klever Justizvollzugsanstalt
Die Tür zur Zelle 143 in der Klever JustizvollzugsanstaltBild: dpa

Das steht in den Medienberichten:

Protokolle aus dem Gefängnis in Kleve sollen darauf hindeuten, dass am Abend des Brandes die Gegensprechanlage im Haftraum betätigt worden sei. Der WDR, die "Bild" und der "Kölner Stadt-Anzeiger" schreiben dies und beziehen sich auf einen geleakten Bericht des Justizministers an die Landtagsfraktionen.

In einem Bericht an den Rechtsausschuss des Landtags hatte Biesenbach in der vergangenen Woche erklärt: "Der Gefangene hatte die Rufanlage jedenfalls nicht betätigt." Auch Grünen-Fraktionschefin Monika Düker forderte Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) in einer Mitteilung auf, den Minister zu entlassen.

Nach Informationen der "Bild" bestehe zudem der Verdacht, dass in der Gesundheitsakte Dinge standen, die pflichtwidrig nicht zur Kenntnis gebracht worden seien. Erst dadurch wäre der Gefangene von der JVA eben nicht als suizidgefährdet eingeordnet worden. Gegen einen Arzt der JVA werde nun wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen ermittelt.

Spuren des Brandes in der Zelle 143
Spuren des Brandes in der Zelle 143Bild: dpa

Diese Fragen sind offen:

  • Lag in Kleve ein Fahndungsfoto des Gesuchten aus Mali vor?
  • Hätte ein Blick darauf genügt, um den Irrtum aufzuklären?
  • Hat sich der Syrer in der Haft über die Verwechselung beschwert?
  • War der 26-Jährige, trotz mehrerer diagnostizierter psychischer Störungen, überhaupt haftfähig?

So geht es weiter:

Diese Frage seien nun Teil der Ermittlungen, sagte der Oberstaatsanwalt Günter Neifer in Kleve bereits Anfang Oktober der Deutschen Presseagentur. In "dieser Dramatik" sei ihm bisher kein anderer Fall bekannt.

Auf watson-Anfrage teilte die Staatsanwaltschaft Kleve mit, dass nun ermittelt werde, ob, wann und durch wen, das Lichtsignal der Sprechanlage in der Zelle deaktiviert worden sei.

Nach Medienberichten widersprechen die neuen Informationen der bisherigen Annahme eines Suizids. Doch es nicht geklärt, ob ein Suizid ausgeschlossen werden kann. Dazu sind weitere Informationen über die mögliche Selbstmordgefährdung des Mannes notwendig. Auch die Brandursache muss noch ermittelt werden.

Die JVA in Kleve
Die JVA in KleveBild: dpa

Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen gegen mehrere Polizisten wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung im Amt eingeleitet. "Es spricht einiges für individuelle Versäumnisse von Polizeibeamten bei der Festnahme", sagte ein Sprecher des NRW-Innenministeriums. Gegen die Beamten seien neben den Ermittlungs- auch Disziplinarverfahren eingeleitet worden. "Wir nehmen das sehr ernst und überprüfen auch die Abläufe bei der Polizei in Kleve", hieß es in Düsseldorf.

Das sagen die Skeptiker:

Die SPD-Opposition in NRW hat großen Klärungsbedarf. Nach den bisherigen Auskünften der Landesregierung gebe es zahlreiche Widersprüche und unbeantwortete Fragen, erklärte SPD-Fraktionsvize Sven Wolf.

Diese Zelle ist baugleich mit der Zelle, in der es am 17. September gebrannt hat.
Diese Zelle ist baugleich mit der Zelle, in der es am 17. September gebrannt hat.Bild: dpa

In einem Schreiben an die Minister für Inneres und Justiz, Herbert Reul und Peter Biesenbach (beide CDU), forderte er einen umfassenden und chronologischen Bericht über "das tragische Geschehen". Von diesem Bericht mache die Oppositionsfraktion ihre Entscheidung über mögliche weitere Schritte in dem Fall – etwa einen Antrag für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss – abhängig, hieß es.

Gefängnisleiter Udo Gansweidt hatte einen Suizid unmittelbar nach dem Feuer als unwahrscheinlich eingestuft, weil der 26-Jährige nur noch bis Mitte Oktober hätte einsitzen sollen: "Für so ein paar Tage bringt sich kein Mensch um." Möglicherweise sei er mit einer Zigarette eingeschlafen, hatte es damals geheißen.

(sg/dpa/AFP)

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