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Bürgerentscheid in Hilgermissen: Bürger wollen Straßennamen verhindern

Oder auch nicht.
Oder auch nicht.Bild: watson/mb
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Ein Bürgerentscheid will verhindern, dass ein Dorf Straßennamen bekommt

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Ein Streit um Straßennamen entzweit ein Dorf. Am Sonntag soll ein Bürgerentscheid eine Lösung bringen. Wir haben mit einem Befürworter und einem Gegner gesprochen.
01.02.2019, 14:0102.02.2019, 13:55

Hilgermissen hat 2186 Einwohner, drei Vorwahlen, drei Kirchen, sechs Schützenvereine, sieben freiwillige Feuerwehren, ein Altenheim, einen Malerbetrieb, eine Gemeindebücherei, einen Uhrmacher, eine Grundschule, eine Hochzeitsplanerin, Qigong-Kurse, ein Fachgeschäft für Kaminholz, Rindenmulch und Hackschnitzel, eine plattdeutsche Theatergruppe, Gasthäuser, die "Zur Post" oder "Zur Peitsche" heißen, zwei Kosmetikstudios und einen mobilen Friseur.

Eines hat Hilgermissen aber nicht:

Straßennamen.

Weil das so ist, streitet die Gemeinde – mit Unterbrechungen – seit über 20 Jahren. Am Sonntag soll nun ein Bürgerentscheid darüber richten, ob Hilgermissens Straßen benannt werden – oder nicht. Knapp 2000 Bürger sind dann aufgerufen, darüber abzustimmen.

Dass Hilgermissen ein Ort ohne Namen – Straßennamen – ist, kam so:

Die Gemeinde Hilgermissen gehört heute zur Samtgemeinde Grafschaft Hoya in Niedersachsen. In den 70er-Jahren werden acht ursprüngliche Gemeinden zusammengelegt. Hilgermissen ist die kleinste unter den acht Siedlungen, liegt mittig und wird fortan zum Namensgeber für das große Ganze. Das erstreckt sich heute über 50 Quadratkilometer. Die Namen der alten Gemeinden werden statt der Straßennamen geführt. Hat beispielsweise ein Hilgermissener aus dem Ortsteil Ubbendorf die Hausnummer 16, dann lautet seine offizielle Adresse: Ubbendorf 16 in Hilgermissen. Das wiederum gilt für den Ortsteil Hilgermissen in Hilgermissen nicht. Anwohner aus diesem Teil haben das Wort "Hausnummer" im Ausweis.

Die Bewohner von Hilgermissen haben aber nicht nur Ortsnamen statt Straßennamen auf ihren Briefbögen. Zur Straßennamenlosigkeit gesellt sich eine weitere Eigenart: Die Hausnummern haben kein System. Zumindest keines, das auf den ersten Blick einer nachvollziehbaren Logik folgt.

Das liegt daran, dass die Hausnummerierung auf das Jahr 1753 zurückgeht. Die Nummern sind ursprünglich von der landwirtschaftlichen Brandkasse vergebene Versicherungsnummern. Gute 100 Jahre später erklärt die Verwaltung die Nummern zu offiziellen Hausnummern. Damals werden die Häuser in den Dörfern der Reihenfolge nach durchnummeriert. Zog ein Hof um, zog die Nummer mit um. Baute jemand neu und zwischen zwei bereits bestehenden Grundstücken, wurden neue Nummern nach Baureihenfolge vergeben.

Das führt dazu, dass heute Wechold 85 gegenüber von Heesen 53 liegt, im Ortsteil Magelsen die 18 auf eine 38 folgt, neben einer 9 auch schon mal eine 63 auftaucht oder zwischen zwei Hausnummern drei Kilometer liegen. Im Ortsteil Hilgermissen gibt es dann gar keine "Straßennamen" mehr, weil sich der Ort ja den Namen mit der Gemeinde teilt.

Ob sich das einsame Ortsschild über Straßenschilder mit richtigen Namen freuen würde, wissen wir nicht.
Ob sich das einsame Ortsschild über Straßenschilder mit richtigen Namen freuen würde, wissen wir nicht..Bild: dpa

Der Streit spaltet die Gemeinde seit 20 Jahren 

Der Namensstreit ist bereits seit 1997 Thema. Damals werden Straßennamen aber von einer Mehrheit im Gemeinderat abgelehnt. 2013 dann werden die Bürger befragt. Die Einwohner stimmen mehrheitlich gegen Straßennamen. Die Befragung hatte aber im Unterschied zum kommenden Bürgerentscheid keine rechtliche Bindung für den Gemeinderat. Der beschäftigte sich weiter mit der Namenlosigkeit und beauftragt drei Jahre später die Uni Osnabrück, eine Alternativlösung zu finden. Studenten ziehen ins Dorf, doch eine Alternative wird nicht gefunden. Schließlich spricht sich ein Gutachten der Uni für Straßennamen aus. Die Studenten gehen, das Thema bleibt. Und beschäftigt den Gemeinderat weitere fünf Jahre. Im Juni 2018 stimmte der Gemeinderat dann (sieben zu fünf Stimmen) für die Einführung. Die Straßennahmen sollen kommen.

Das finden aber nicht alle gut. 

Drei Bürger aus Hilgermissen wollen das nicht hinnehmen. Sie beginnen Unterschriften für ein Bürgerbegehren zu sammeln, um die Namensgebung noch zu verhindern. Damit das Erfolg hat und es zu einem Bürgerentscheid kommen kann, brauchen sie Unterschriften von 10 Prozent der Wahlberechtigten. 186 Unterschriften sind dafür nötig.

"Innerhalb einer Woche hatten wir über 500", erinnert sich Jürgen Stegemann. Er ist einer der drei Initiatoren des Bürgerbegehrens. Im Pass des 79-jährigen Landwirtes in Rente steht der (Ortsteil-)Straßenname Mehringen. 

Bereits beim Einsammeln der Unterschriften bekommen die drei Straßennamengegner viel Zuspruch, erzählt Stegemann. Etliche Bewohner seien richtig sauer gewesen. Auch die, die vor sechs Jahren für Straßennamen gestimmt hätten, würden heute dagegen stimmen. Aus Protest, weil die Verwaltung sich nicht mehr an die damalige Entscheidung gebunden fühle. So könne man doch Demokratie nicht auslegen, schließlich sei die Befragung 2013 doch gegen Straßennamen ausgefallen.

Diese Frage wird am Sonntag beim Bürgerentscheid gestellt:
"Soll das Ergebnis der Bürgerbefragung von 2013 weiterhin Gültigkeit haben und deshalb keine Straßennamen in der Gemeinde Hilgermissen eingeführt werden?"

Auch fürchtet Stegemann, dass durch die Einführung von Straßennamen die Namen der alten acht Orte verschwinden. "Das sehen wir als Bruch der Tradition an", sagt er.

Stegemann wehrt sich gegen die Vorwürfe, die Gegner von Straßennamen würden nicht mit der Zeit gehen. "Wir sind nicht so hinterwäldlerisch, dass wir glauben, es ginge ohne Straßennamen. Die sind grundsätzlich unabkömmlich." Aber Hilgermissen habe differenzierte Siedlungen, weitläufige Feldwege, freistehende Höfe, weit auseinander stehende Häuser. "Das geht auch ohne."

"Wichtig ist doch, dass jeder gefunden wird", sagt Stegemann. "Und das wird er." Vom Rettungsdienst, von der Feuerwehr und auch von der Polizei. Das sei mit der heutigen Technik jederzeit möglich, sagt er. Stegemann hat den Selbstversuch gemacht. Er hat in das Navi seines Autos all die Adressen eingegeben, über die die Gegenseite sagt, die seien nicht zu finden: "Stimmt nicht. Ich habe alle gefunden", sagt er.

Stegemann fürchtet, dass 300 bis 500 Straßenschilder aufgestellt werden müssten. Offiziell hat die Gemeinde die Kosten für die Einführung von Straßennamen auf 40.000 Euro veranschlagt. Stegemann und Co. aber glauben, dass es schnell 80.000 bis 100.000 Euro werden könnten. 

Im Vorfeld der Abstimmung habe auch der Friede in der Gemeinde ein wenig gelitten, sagt Stegemann. Er möchte nicht, dass so eine Abstimmung seinen kleinen Ort entzweie. "Bleibt sachlich, bleibt ruhig, wir wollen keine Gräben", appelliert Stegemann. 

"Wir haben doch alle nur einen Sportverein, eine Schule, gemeinsame Schützenvereine und freiwillige Feuerwehren, wir machen Feste zusammen. Das kann doch nicht auf der Strecke bleiben."

Aus der Zeitung hat er erfahren, dass ein Straßennamenbefürworter nicht mehr von allen gegrüßt werde. Stegemann findet das nicht gut. "Man kann doch verschiedene Meinungen haben."

Stegemann ist froh, dass am Sonntag die Hilgermisser über Straßennamen entscheiden. Das sei lupenreine Basisdemokratie. Und das mit relativ wenig Aufwand. Die drei Initiatoren des Bürgerentscheids und Namensgegner haben für ihre Aktion kaum Geld ausgeben müssen. Ein ehemaliger Lehrer aus Berlin hat in der alten Druckerei die Plakate gedruckt. Ein paar Handzettel hätten maximal 40 Euro gekostet. Das war's. Kein Internet. Kein Schnickschnack.

Die Straßennamenbefürworter

Die Gegenseite muss da schon sehr viel mehr Aufwand betreiben. Ein bloßes Nein zu Veränderung braucht vor allem Emotion. Die Straßennamenbefürworter aber brauchen Argumente. Und jede Menge Überzeugungskraft.

Der Hilgermisser Arne Röhrs hat eigens dafür mit Freunden die "Interessengemeinschaft für Straßennamen" gegründet. Ihre Aktionen beschränken sich nicht allein auf die klassischen Flyer und Infozettel. Sie sind auf Facebook, Twitter und mit aufwendigen Videos auf YouTube aktiv.

"Straßennamen sind zukunftssicher"

Dort erklären sie den Streit um die straßennamenlose Gemeinde. Das alles sei in ehrenamtlicher Arbeit in der Freizeit entstanden, sagt er. Die Videos habe er im Team produziert und im Keller vertont. Die Figuren seien selbst gezeichnet und man habe Stück für Stück gelernt, Drehbücher zu schreiben und mit der Software umzugehen. Alles in Eigenregie mit Hilfe von Freunden. 

Diesen Aufwand betreibe Röhrs, weil er bei der Befragung 2013 schon einmal erlebt habe, "wie so etwas ausgehen kann, wenn im Vorfeld falsche Informationen im Umlauf sind. Da gab es das Wort 'Fake-News' noch gar nicht." Durch falsche Behauptungen sei damals die Stimmung gekippt. Deshalb haben Röhrs und Co. sich dieses Mal gesagt: "Das passiert uns nicht nochmal." Sie wollen aufklären und beide Seiten informieren. "Die Leute müssen bei einem Bürgerentscheid die Faktenlage und die Argumente beider Seiten  kennen“, sagt er.

Die Behauptung der Gegenseite, dass doch alles gut funktioniere, stimme einfach nicht. 

Röhrs nennt drei zentrale Argumente für Straßennamen:

1. "Durch Straßennamen wird die Auffindbarkeit im Alltag erleichtert."

2. "Straßennamen helfen beim Melden von Notfällen. Wenn sie außerhalb des Dorfes einen Unfall haben, können sie nicht genau sagen, wo sie sind."

3. "Die Einsatzzeiten von Polizei und Rettungsdiensten können durch präzisere Angaben reduziert werden. "

Außerdem: "Versuchen sie mal, bei Amazon etwas zu bestellen", sagt Straßennamenbefürworter Röhrs. "Die Leute aus dem Dorf Hilgermissen mit der Adresse 'Hausnummer' müssen sich dann etwas ausdenken, weil ohne Straßennamen kein Kundenkonto eröffnet werden kann."

Es sei schwer, mit Argumenten durchzudringen, klagt er. "Der Träger der Rettungsdienste, die Leitstelle und Polizei bestätigen unsere Auffassung. Und trotzdem sagen die Straßennamengegner einfach, das stimmt alles nicht." 

Röhrs glaubt, dass es bei dem Streit längst um mehr ginge, als um eine bloße Sachfrage, als um Straßennamen. "Das geht tiefer", sagt er. Die Gemeinde habe ja eigentlich schon den Entschluss gefasst, Namen einzuführen. Mit dem Bürgerbegehren würde der Streit zurück in die Bevölkerung getragen.

"Das ist ein bisschen so eine Art Brexit im Kleinen hier."
Straßennamenbefürworter Röhrs

Röhrs war immer Anhänger von direkter Demokratie. Die Entwicklung in seiner Heimat aber mache ihn nachdenklich. "Durch diese Erfahrung bin ich sehr skeptisch geworden, was plebiszitäre Elemente in dörflichen Strukturen betrifft." Jemanden mit Sachargumenten zu überzeugen, der seine Meinung schon hat, sei sehr schwierig. "Und die Folgen dieses Bürgerbegehrens werden noch lange zu spüren sein."

Was den Ausgang am Sonntag betrifft, äußert er Zweifel am eigenen Erfolg. "Es gibt sehr viele, die traditionell eingestellt sind." Eine Niederlage aber werde er nicht persönlich nehmen: "Es geht hier um eine Sachfrage. Wenn die Leute das nicht wollen, dann ist das so."

Zumindest das teilt er mit dem Straßennamengegner Stegemann: Sollte eine Mehrheit am Sonntag für Straßennamen stimmen, "dann ist das so", sagt auch Stegemann. "Dann lebe ich damit. Dann wird das eingeführt und fertig. So verstehe ich Demokratie. Dann muss auch wieder Schluss sein. So wichtig ist das alles dann auch nicht."

Sprechen sich am Sonntag 376 Personen gegen die Einführung von Straßennamen aus, hat der Bürgerentscheid im Sinne der Straßennamengegner Erfolg. Der hätte dann zwei Jahre lang Gültigkeit.

Für den Fall also, dass es dann auch in naher Zukunft keine Namen in Hilgermissen gibt, kann auf die Internetseite der Gemeinde zurückgegriffen werden. Denn dort gibt es Hilfe: den "Hausnummerfinder"

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Video: watson/Katharina Kücke

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