David Köckert steht am Sonntagabend in einem Kreis aus Demonstranten. Etwa 2500 Menschen haben sich in der kleinen Stadt Köthen in Sachsen-Anhalt zu einem "Trauermarsch" versammelt. Einige Stunden zuvor war ein junger Mann nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung gestorben. Zwei Afghanen sitzen in U-Haft.
"Es ist ein Rassenkrieg gegen das deutsche Volk, was hier passiert", ruft Köckert ins Mikrofon. Er hat sich an diesem Abend ein schlichtes Jacket angezogen. Doch nicht nur seine aggressive Rede, auch das Tattoo auf seinem Gesicht verraten die neonazistische Gesinnung des Mannes.
Er hat dort eine "Schwarze Sonne" tätowiert, ein Symbol mit direktem Bezug zur SS der Nazis. Köckert ist kein trauernder Köthener. Er ist einer von mehreren angereisten Strippenziehern der rechtsextremen Szene, die versuchen, die Stimmung in der Kleinstadt aufzuheizen.
Um ihn herum stehen jedoch auch Köthener Bürger. Tatsächlich sind viele von ihnen keine Neonazis. Und doch lassen sie sich von gewaltbereiten Rechtsextremen instrumentalisieren und vereinnahmen, indem sie auf der Straße den Schulterschluss mit ihnen üben.
Diesen Schulterschluss versuchen Neonazis bereits seit Jahrzehnten immer wieder. Sie stacheln Versammlungen angeblich "besorgter" oder "empörter" Bürger an, instrumentalisieren Todesfälle für ihre Zwecke und schüren Ängste in der Bevölkerung.
Samstag, 22. August 1992. Vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen haben sich rund 2000 Menschen versammelt, vielen von ihnen sind Anwohner. Hunderte beginnen, das Asylbewerberheim mit Steinen anzugreifen, während der Großteil anfeuernd daneben steht.
Am Tag danach gehen die Ausschreitungen weiter. Steine und Molotow-Cocktails fliegen. Die Polizei hat die Situation nicht im Griff. Die Bewohner des Asylbewerberheims und eines Wohnheims für vietnamesische Arbeiter fürchten um ihr Leben. Einen Tag darauf steht das Wohnheim der Vietnamesen in Flammen. Diese drei Tage werden als die bislang heftigsten rassistischen Angriffe seit der Gründung der Bundesrepublik in die Geschichte eingehen. (Deutschlandfunk)
Bereits am zweiten Tag sind an diesen Ausschreitungen nicht mehr nur Anwohner und andere Rostocker beteiligt. Aus Westdeutschland haben sich mehrere Strippenzieher der Neonazi-Szene auf den Weg nach Rostock gemacht. Sie unterstützen die Gewalt dort. Berichte legen sogar nahe, dass sie die Ausschreitungen in Teilen per Funk koordinieren.
Einer der Neonazis, die 1992 nach Rostock-Lichtenhagen reisen, ist Christian Worch. Worch war seit den 1970er Jahren Funktionär mehrerer mittlerweile verbotener Neonazi-Organisationen. 2012 gründete er die rechtsextreme Kleinpartei "Die Rechte". (NDR)
Fast 16 Jahre später in Stolberg, Nordrhein-Westfalen. In der Stadt bei Aachen wird im April 2008 der 19-jährige Kevin P. erstochen. Der Täter: ein 18-Jähriger mit libanesischen Wurzeln. Es geht bei der Tat nicht um Politik.
Trotzdem erklären Rechtsextreme den Getöteten schnell zu einem "Märtyrer" und instrumentalisieren den Tod für eine politische Kampagne. ("taz")
Im Monat nach der Tat werden gleich mehrere Neonazi-Demos in Stolberg veranstaltet. In den kommenden Jahren bekommt der Jahrestag der Tat einen festen Platz im Demo-Kalender deutscher Rechtsextremisten. Vor allem die gewaltbereite Kameradschaftsszene kommt hier immer wieder zusammen.
2013 wird der jährliche Aufmarsch schließlich verboten: Die Polizei argumentiert, die Demos seien eine Fortführung der Aktivitäten der "Kameradschaft Aachener Land". Die wurde bereits im Jahr zuvor vom nordrhein-westfälischen Innenminister verboten. (Der Westen)
2015 im sächsischen Freital. In der 40.000-Einwohner-Stadt in der Nähe von Dresden gehen Monate lang Anwohner gegen die Unterbringung von Asylbewerbern auf die Straße. Sie demonstrieren, stören und pöbeln bei Diskussionsveranstaltungen mit Politikern. Die Proteste eskalieren, als im Juni bekannt wird, dass weitere 280 Flüchtlinge kurzfristig in das ehemalige Hotel Leonardo einziehen sollen, das zur Asylunterkunft umfunktioniert wurde.
Auch hier sind es jedoch nicht nur Freitaler Bürger, die demonstrieren. Pegida-Gründer Lutz Bachmann rührt die Werbetrommel für den rassistischen Protest, über die Sozialen Medien verbreiten sich Aufrufe, denen auch auswärtige Rechtsextreme folgen. Die Stimmung kocht mehr und mehr hoch. (Spiegel Online)
Parallel zu den Protesten schließen sich mehrere Rechtsextremisten in Freital zu einer terroristischen Vereinigung zusammen. Sie begehen insgesamt fünf Sprengstoffanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und politische Gegner. (MDR)
Mit einem in Deutschland illegalen Sprengkörper aus Polen zerstören sie etwa das Auto eines Linken-Stadtrats in Freital. Mit anderen illegalen "Böllern" sprengen sie ein Fenster einer Flüchtlingsunterkunft. Verletzt wird dabei niemand, weil die Bewohner in einem anderen Raum schlafen. (Zeit Online)
Im April 2016 schlägt dann die Eliteeinheit "GSG9" der Bundespolizei in Freital zu und nimmt fünf Mitglieder der "Gruppe Freital" fest. Im März 2018 werden sieben Männer und eine Frau schuldig gesprochen. Die Vorwürfe: Bildung einer terroristischen Vereinigung, Herbeiführen von Sprengstoffexplosionen und versuchter Mord.
Ein Verteidiger im Prozess gegen die Rechtsterroristen ist Martin Kohlmann, der Vorsitzende von "Pro Chemnitz". Einige Monate später wird Kohlmann durch die rechtsextremen Proteste in Chemnitz einem breiteren Publikum bekannt. In seinem Abschlussplädoyer richtete er drohende Worte an das Gericht: Er halte sein Plädoyer, damit es "nach einem Systemwechsel" in einem Verfahren gegen den Senat "strafschärfend" berücksichtigt werde. ("Sächsische Zeitung")
August 2015: Nur eine halbe Stunde Autofahrt von Freital entfernt kommt es in der sächsischen Kleinstadt Heidenau zu pogromartigen Ausschreitungen.
Ein leerstehender Baumarkt wird zur Notunterkunft für Flüchtlinge umfunktioniert.
Hunderte Menschen demonstrieren am 21. August in Heidenau dagegen. Anschließend versammelt sich ein Teil davon vor dem ehemaligen Baumarkt. 31 Polizisten werden verletzt, als Rechtsextreme sie mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern bewerfen.
Die Polizei setzt Tränengas und Pfefferspray ein, um eine Blockade auf einer Zufahrtsstraße zu räumen. Zu der Demonstration hatte unter anderem die rechtsextreme NPD aufgerufen, trotzdem kamen auch Anwohner, die nicht zur Neonazi-Szene gehören. (Zeit Online)
Am nächsten Tag demonstrieren mehr als 200 Menschen vor der Notunterkunft ihre Solidarität mit Flüchtlingen. Ihnen gegenüber stehen aggressive Rechtsextreme. Am späten Abend kommt es erneut zu Ausschreitungen und Angriffen auf die Polizei. Die ist an beiden Abenden mit weniger als 200 Beamten im Einsatz. An den insgesamt drei Tage andauernden Krawallen beteiligen sich auch angereiste Neonazis.
Nach den Ausschreitungen besucht Bundeskanzlerin Angela Merkel die Heidenauer Notunterkunft und verurteilt die Gewalt.
27. Dezember 2017. In der rheinland-pfälzischen Kleinstadt Kandel ersticht ein afghanischer Flüchtling seine 15-jährige Ex-Freundin Mia. Die Tat schockiert die Stadt und sorgt auch bundesweit für viel Aufsehen.
Der Kreisverband der AfD organisiert einen Trauermarsch, in den darauffolgenden Monaten kommt es immer wieder zu Demonstrationen. Teilweise über 4000 Menschen gingen dabei auf die Straße. Mit dabei: Kandeler Bürger, AfD-Politiker, Identitäre, aber auch klassische Neonazis.
Das "Frauenbündnis Kandel" ruft auch heute noch regelmäßig zu Protesten in der Kleinstadt auf. Verantwortlich für den Internetauftritt des "Frauenbündis" ist übrigens ein Mann. Die Gruppe veröffentlicht ihre Aufrufe nicht nur auf Facebook, sondern auch in verschiedenen öffentlichen Kanälen der Messenger-App Telegram.
Dort wird auch deutlich, wie stark die Organisatoren des angeblichen Bürger-Protestes in Kandel mit anderen Rechten und Rechtsextremen verbunden sind. Sie teilen dort auch Demonstrations- und Spendenaufrufe etwa von Gruppen wie "Pro Chemnitz".
Eine der Aktivistinnen des "Frauenbündnis" verbreitet in ihrem Telegram-Kanal auch einen Link zur Facebookseite des Neonazis und rechtsextremen Konzertveranstalters Tommy Frenck.
Sonntag, 26. August 2018 in Chemnitz. Nach dem gewaltsamen Tod des 35-jährigen Daniel H. gehen in der drittgrößten Stadt Sachsens bis zu 1000 Menschen auf die Straße. Dabei kommt es zu Jadgszenen, ein Mob greift in der Chemnitzer Innenstadt Migranten an. Aufgerufen zu dieser Demo haben rechtsextreme Fußball-Ultras. Die Polizei schafft es nicht, den Mob im Griff zu behalten.
Am Tag darauf geht es in der Chemnitzer Innenstadt weiter: Tausende Menschen sind einem Aufruf der rechten Organisation "Pro Chemnitz" gefolgt. Darunter sind Chemnitzer Bürger – aber auch ortsansässige und aus dem ganzen Bundesgebiet angereiste Neonazis.
Die neonazistische Kleinpartei "Der Dritte Weg" tritt mit Plakaten und einem Banner auf, Aktivisten der Neonazi-Partei "Die Rechte" reisen extra aus Nordrhein-Westfalen an. Mehrere Kader der bundesweiten Neonazi-Szene nehmen an den Protesten teil, bei denen Polizisten, Journalisten und Gegendemonstranten angegriffen werden.
An einer der darauffolgenden Demonstrationen nimmt auch Christian Worch teil, der schon 1992 nach Ostdeutschland gereist war, um die pogromartigen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen zu befeuern.