Özil geht, der Hambacher Forst bleibt, Chemnitz schreckt auf – 2018 war turbulent. Auch für uns: watson.de startete im März. Auf einige Geschichten sind wir seitdem besonders stolz. Wie auf diese hier:
Ob Chemnitz oder Köthen – Rechtspopulisten und Rechtsradikale in ganz Deutschland haben ein gemeinsames Feindbild: den muslimischen Mann.
Vor allem als 2015 viele Menschen aus Syrien und anderen Kriegsgebieten nach Deutschland geflüchtet sind, hat sich das ohnehin schon exotisierte Bild des muslimischen Mannes in der deutschen Mehrheitsgesellschaft auf einige wenige – meist negative – Klischees reduziert.
Der muslimische Mann ist Zielscheibe und Adressat von Stereotypen, Erzählungen und sogar Ängsten einiger "besorgter Bürger".
Sineb El Masrar ist Autorin und Publizistin und hat 2010 ihr Buch "Muslim Girls – Wer wir sind, wie wir leben" veröffentlicht. Darin beschreibt sie die Lebenswelt muslimischer Mädchen in Deutschland. Jetzt kommt der Nachfolger "Muslim Men – Wer sie sind, was sie wollen".
In dem Buch geht es um muslimische Männer in all ihren Facetten. Die 37-Jährige hat sich dafür mehrere Monate mit Psychologen getroffen, mit Sozialarbeitern und knapp zwei Dutzend muslimischen Männern selbst gesprochen.
El Masrar beleuchtet die Lebenswelt vieler "Muslim Men": Sie hat sich beispielsweise mit dem Boss einer arabischen Großfamilie getroffen, mit einem Sexarbeiter, spricht über deutschen Gangsta-Rap und Muttersöhnchen und stellt bei allen fest: Echte Emanzipation im Islam geht nur mit den Männern.
watson: Sineb, wer sind die "Muslim
Men" für dich?
El-Masrar: So banal das klingt: Das sind Männer wie alle anderen auch.
Nur dass es ihnen – im Gegensatz zu nicht-herkunftsmuslimischen Männern, an
Rollenbildern fehlt. Es fehlt ihnen eine Symbiose aus verschiedenen Identitäten.
Sie sind türkischstämmig, marokkanischstämmig, arabischstämmig, berberisch,
afrikanisch, asiatisch, schwarz – sie haben selbst viele Identitäten, die sie
noch nicht geschafft haben, zu verbinden. Und sie haben Unsicherheiten, die sie
nicht öffentlich artikulieren können und mit anderen muslimischen Männern
darüber zu sprechen.
Sind das Probleme außerhalb oder innerhalb der eigenen Community?
Die Probleme in der eigenen Community sind viel
größer als die mit der Mehrheitsgesellschaft. Und der Frust aus der eigenen
Familie wird so mit sich herumgetragen und unterdrückt. Das wird dann
kompensiert, indem man sehr oft Rassismus beklagt, aber das Problem ist die
eigene Unzufriedenheit. Denn rechtlich sind vor allem deutsche Staatsbürger in diesem Land gleichgestellt.
Aber man muss sich ja
nur Chemnitz anschauen: Da gibt es eindeutigen Rassismus.
Genau, und den gibt es in jedem anderen Land auch. Aber es gibt auch zig Menschen, die sich in diesem Land explizit gegen diese
rechte Gesinnung auf die Straße begeben. Das zeigt ja, dass Menschen in diesem
Land differenziert denken und Rassismus als ein Problem wahrnehmen. Das ist in
vielen anderen Ländern nicht der Fall. Da werden Minderheiten eher unterdrückt
und marginalisiert. Und dieses Denken gegenüber Schwarzen, Kurden, Amazigh,
Jeziden, Juden wird in Deutschland fortgeführt. Natürlich gibt es Chemnitz, aber
eben auch ein großes Meer an Menschen, die sagen: "Das ist nicht unser
Deutschland und das wollen wir nicht."
Aber reicht das? Ist Rassismus in Deutschland für dich kein so großes Problem?
Natürlich reicht das nicht. Wir leben zwar in einem Land,
wo sich überall Menschen in Vereinen, Initiativen und auch ehrenamtlich gegen
Rassismus engagieren und sogar in Teilen staatlich unterstützt werden durch
diverse Fördertöpfe. Das ist sehr wichtig und richtig. Was wir aber noch immer
nicht begriffen haben, ist, dass wir in einer multireligiösen und multiethnischen
Gesellschaft unterschiedlichen Rassismus erleben. Denn es gibt auch Rassismus unter Nicht-Herkunftsdeutschen. Jeden Tag! Und den bekämpfen wir noch immer nicht effektiv,
weil viele ihn zum Teil nicht sehen wollen. Jeder und jede ist täglich gefragt, wachsam zu sein und Rassismus in allen Facetten die Rote Karte zu zeigen.
Was sind die
schmerzhaften Punkte für die "Muslim Men" in der Selbstanalyse?
Da ist einmal die Gewalt, die Männer selbst sehr früh am
eigenen Leib erfahren haben. Das geht durch die Bank weg bei allen, die ich
getroffen haben. Egal, ob sie erfolgreiche Karrieremänner sind, zu den
Gewinnern oder Verlierern gehören: Gewalt in der Erziehung, Gewalt in der
Moschee gehörte immer dazu. Oftmals wurde berichtet, dass die Imame mit Stöcken auf die
Gliedmaßen geschlagen haben. Auch der Ton war alles andere als freundlich.
Schwarze Pädagogik ist damals wie heute noch existent.
Ein weiteres Problem ist ein sehr ambivalentes Verhältnis zur eigenen Mutter, aber auch der Druck, der innerhalb der Community herrscht. Wie die Partnerin zu sein hat, wie Intimitäten ausgelebt
werden. Mädchen sind da viel stärker im Fokus der Mehrheitsgesellschaft, als auch ihrer Familien und der Community. Die einen betrachten sie als Opfer, die anderen als ihr Eigentum, um es mal sehr drastisch zu beschreiben. Die Mädchen leben ein stärkeres Doppelleben.
Sie sind mit dem klassischen Männlichkeitskonstrukt konfrontiert: Der Mann, der
Versorger ist, nicht weint und Härte zeigt. Und wenn sie dann doch
unsicher sind, Ängste haben, nicht wissen, wie sie zur eigenen Homosexualität
stehen, oder wenn er sich eigentlich eher als sie versteht – werden all das
schmerzhafte Unsicherheiten. Außerdem
gibt es auch viele muslimische Männer da draußen, die mit ihrer Religion
hadern. In dem Moment, in dem Eltern versäumt haben, die Identität zu
stärken und den Jungs beim Erwachsenwerden zu helfen, suchen viele andere wiederum ihre
Identität in der Religion. Das wertet sie auf. Wenn dann jemand problematische
Auslegungen kritisiert, wird das nicht als Angriff auf die Religion, sondern
auf die Identität verstanden. Und das erzeugt genau die Konflikte in der
Gesellschaft, die wir haben.
Welche Konflikte meinst du genau? Wie sehen die häufigsten Konflikte im Alltag aus?
Jeder
Mensch hat das Recht, nicht zu glauben und auch Religion nicht mögen. Damit
steht ihm auch zu, diese Weltanschauungen – und dazu gehört eben auch der Islam – zu
kritisieren. Das bedeutet ja nicht, dass einem die Religion dadurch
abgesprochen wird. Das darf sich auch kein Atheist anmaßen. Wenn jemand seine
Identität aber nur aus dem Islam speist, weil er keine gesunde vielschichtige
Identität ausbilden konnte, wird er je nach Schwäche und Aggressionspotenzial
zu Beschimpfungen, Herabwürdigung anderer oder Gewalt übergehen. Das sehen wir
im Kleinen, wenn Muslime Jeziden, Aleviten oder Christen mit der Hölle drohen,
ihren Kindern verbieten, mit ihnen Freundschaften zu schließen oder gar
Partnerschaften einzugehen, oder wie im Falle von sogenannten Islamkritikern mit
dem Tod bedrohen und deshalb unter Staatsschutz leben müssen.
Für wen hast du das
Buch geschrieben? Damit die Deutschen die "Muslim Men" besser verstehen, oder
damit die "Muslim Men" sich selbst besser verstehen?
Sowohl als auch. Es gibt viele Fragen und Vorurteile und die
wollte ich für alle ein bisschen genauer unter die Lupe nehmen. Die "Muslim Men" sind ja überall. Sie bringen uns unsere Pakete, durchforsten unser Gepäck am
Flughafen, sind Ärzte, Partner, Nachbarn, verkaufen uns Döner, sind unsere
Lehrer – und das Buch ist für alle, die das Phänomen noch nicht ganz verstehen, aber aufgeschlossen sind. Und es ist auch ein Buch für muslimische Männer, denn
egal, mit wem ich dazu geschrieben oder gesprochen habe: Durch die Bank weg hieß
es immer: "Wir brauchen so ein Buch. Wir sind unglücklich. Wir müssen reden."
Was eint denn alle "Muslim Men" deiner Meinung nach?
Leider oft die
Gewalterfahrung in der Erziehung, da gab es kaum jemanden, der das nicht
erzählt hat. Ein oftmals abwesender Vater, teils auch Mütter. Diejenigen, die
sich gut entwickelt haben, hatten immer eine Vater-Ersatz-Figur. Sei es der
ältere Bruder, Onkel, Vater eines Freundes. Was ich interessiert fand: Vielen
muslimischen Frauen wird es ja noch immer untersagt, einen Mann anderen
Glaubens zu heiraten. Das liegt auch daran, da es bei vielen muslimischen Männern die Unsicherheit gibt, dass sie nicht mehr allein auf den
muslimisch-weiblichen Pool allein zugreifen können.
Und sowohl Frauen als auch muslimische Männer, die schwul sind und mit denen ich gesprochen habe, sagten mir: Sie wollen keinen
muslimischen Partner. Weil die alle schwierig seien. Dass sie sich nicht mit den
eigenen Problemen auseinandersetzen, mit den Dämonen und der eigenen Community, führt
also im Endeffekt auch dazu, dass viele muslimische Männer alleine bleiben und
einsam werden. Und im Salafismus und Islamismus zumindest die Garantie finden,
dass man ihnen Frauen zur Seite stellt.
Liegt das Problem in
der Religion?
Ja und Nein. Der Islam ist nicht der alleinige Verhinderer
von Aufstieg und Ausgeglichenheit. Das sind andere Faktoren und die finden sich
in erster Linie in der Beziehung zu Vater und Mutter. Der Islam ist aber – wie
das Christentum – eine patriarchal angelegte Religion. Und wenn die Frau nur
als Mutter geehrt wird und nicht als Individuum mit eigenen Interessen, wirkt
das auch auf die Männer da sie mit Müttern aufwachsen, die selbst zum Teil
unterdrückt worden sind, oder sich selbst dem patriarchalen System unterordnen.
Und das kommt den Söhnen und später Männern nicht zugute. Da kommt der Islam
ins Spiel. Ja, es gibt den Islam, der einengt und keine Kritik oder freie
Entfaltung zulässt. Männer, die sich zuhause nicht frei entfalten konnten oder
bedingungslos geliebt wurden, sind empfänglich für diesen traditionellen Islam,
der Struktur gibt. Der Islam ist da, wo er politisch
instrumentalisiert wird, ein Problem. Und den gekränkten Seelen, die hier in
Deutschland rumlaufen, suggeriert Islamismus Stärke, Macht und Unantastbarkeit.
Wer trägt denn Schuld an den "gekränkten Seelen" hier?
Das Dilemma ist: Mädchen stehen viel mehr im Fokus. Eine
junge Frau wird viel eher von der Familie dazu befähigt, einen Haushalt zu führen, eine Ehe,
ihr Studium zu beenden. Die Jungen haben zu viel von der Freiheit, die den
Mädchen fehlt. Diese Freiheit wird oft mit Vernachlässigung in der Familie
gekoppelt. Die Eltern bringen den Jungs nicht bei, Eigenverantwortung zu
übernehmen und das fällt denen als Erwachsene auf die Füße. Der
finanzielle, berufliche Erfolg ist aber für Männer viel essenzieller. Bei den
Gesprächen und Analysen hat sich herausgestellt, dass viel in den Familien
versäumt worden ist. Eine ungesunde Mutter-Sohn-Beziehung spielt da klar mit
rein. Das erzeugt bei den Jungen Frustration, da sie nicht der Partnerersatz
sein sollten, sondern eben das Kind der Mutter.
Aber Deutschland und
dessen Integrationsbemühungen oder –Versäumnisse siehst du in dem Mix nicht?
Natürlich befeuert das alles. Es gibt nicht den einzigen
Faktor. Es gibt Jungs, die kommen aus prekären Verhältnissen, hatten keinen
liebevollen Vater, aber haben es geschafft. Aber sie haben es eben deswegen
geschafft, weil sie die Rahmenbedingungen gefunden haben, eine andere
Vaterfigur, eine Gesellschaft und das bietet Deutschland: sich sozial zu
steigern. Man kann hier eine Ausbildung machen, das soziale Gefälle ist nicht
so ausgeprägt wie in Frankreich oder England.
Natürlich gibt es Rassismus und der kränkt, aber: Wer
zuhause geliebt, geschätzt und zu Selbstständigkeit ermutigt wird, der kann mit
Rassismus umgehen und entfaltet sich auch.
Und wir sehen immer wieder, dass egal in welchen
Gesellschaften muslimische Männer leben – ob es nun eine ist, die sie
marginalisiert oder die rassistisch ist – das nicht der Grund ist, weshalb sich
jemand radikalisiert oder scheitert im Leben. Der Grundstein wird in der
Familie gelegt.
In der
Öffentlichkeit gibt es oft Fälle, in denen die Religion und
Nationalität der Täter hervorgestellt wird. Zum Beispiel der Fall von
Mia in Kandel. Wie nimmst du das wahr und wie wird das nach deiner Erfahrung in der Community besprochen?
Es ist ein Teufelskreis, da das Stigma des brutalen und
fanatischen muslimischen Mannes durch solche Ereignisse und Berichterstattung
weiter an einer ganzen konfessionellen Gruppe haftet, die eigentlich auch vielschichtig
ist. Auch wenn es einige Besonderheiten bei ihnen gibt.
All die ausgeglichenen, muslimischen Männer haben somit
ihren Ruf weg, bevor sie in Erscheinung treten. Andererseits fragen sich
zahlreiche Bürger und Bürgerinnen in diesem Land, wer der Täter ist. Dazu gehört auch die ethnische Herkunft oder Staatsangehörigkeit. Es ist unser gutes Recht auf Information. Wir müssen allerdings dringend lernen, diese Informationen nicht gegen eine ganze
ethnische oder religiöse Gruppe zu verwenden. Denn das geschieht immerzu von
rechtspopulistischer Seite und das macht es so unfassbar schwer, friedlich miteinander zu leben. Auch hier ist es wichtig, Courage zu zeigen und solch einen
Missbrauch zu mahnen. Denn Fakt ist auch, dass unschöne Dinge immer geschehen
werden. Aber unsere Intention darf es nicht sein, solche
Ereignisse zu missbrauchen.
Jetzt sprichst du
viele Probleme der "Muslim Men" an. Was sind denn ihre positiven Eigenschaften?
Es gibt viele, die Durchhaltewillen bewiesen haben. Die
zeigen: Wenn man dranbleibt und an sich selbst glaubt, selbstkritisch ist, kann
man damit nur gewinnen. Das führt zu einem besseren Leben, statt sich immer der
eigenen Community, Religionsgemeinschaft oder Männlichkeitskonstrukt
unterzuordnen. Und davon gibt es ziemlich viele und die sind eben nicht
sichtbar. Die einzig sichtbaren sind Islamvertreter, Menschen, die insgeheim gar nicht daran interessiert sind, dass die Gesellschaft zusammenwächst . All diese
erfolgreichen, herzlichen, engagierten, differenziert denkenden muslimischen
Männer, die es auch zahlreich in Deutschland gibt, sieht und hört keiner. Die
bekommen in dem Buch auch ein Forum.
Wie denkst du,
reagieren die "Muslim Men" auf das Buch? Jetzt kommt eine Frau und erzählt den
vielleicht ohnehin schon unsicheren Männern, was ihre Probleme sind.
Ich habe ja ihnen nicht erzählt, was ihre Probleme sind. Sie
haben mir erzählt, was ihre Probleme sind. Und ich habe mit Menschen
gesprochen, bei denen ich gar nicht gedacht hätte, dass das möglich wäre. Bei
allen war das Bedürfnis da, zu sprechen. Ich glaube, viele haben mich eher als
eine Art Schwester gesehen, der sie sich anvertrauen können. Die Mehrheit
meiner Gesprächspartner wollte anonymisiert werden und das zeigt, dass der
Gesprächsbedarf da ist, aber sie noch unsicher sind, ob sie sich der
Öffentlichkeit stellen können. Aber es gibt viele, die reden wollen.
Welche "Muslim Men" haben dich in deiner Lebenswelt geprägt?
Mein Vater hat mit mir immer über alles diskutiert, war sehr
direkt und hat seine Meinung nicht zurückgehalten. Diese Art habe ich sicher
von ihm. Das war sehr erfrischend. Seine Erziehung machte keinen Unterschied zwischen Tochter und
Sohn. Er hat mich nie eingeschränkt. Dieser Muslim Man ist eine meiner
prägendsten Figuren im Leben und ich verdanke ihm viel. Das bedeutet auch, dass
ich Männer, die mir mit einer Macho-Attitüde entgegen kommen, nicht ernst nehmen
kann und meist nur mit den Augen rolle.
"Muslim Men – Wer sie sind, was sie wollen" (Herder Verlag) ist seit dem 17. September im Handel erhältlich.