Es breitet sich schleichend aus. Kaum eine Person in Europa kann sich das in den USA wohl vorstellen: ein striktes Leben nach den Geboten der Bibel, kein Sex vor der Ehe, eine US-Regierung von evangelischen Christ:innen basierend auf dem Gesetz der Bibel.
Neben dem Highway to Freedom oder Sex, Drugs, Rock&Roll gibt es in den USA auch das Gegenstück: christlicher Nationalismus. Für die Anhänger:innen ist gleichgeschlechtliche Liebe, eine außereheliche Schwangerschaft oder Trans*geschlechtlichkeit ein Highway to Hell.
Ihre Agenda verbreiten sie seit langem nicht mehr nur in ihren Kirchen, die christlichen Fanatiker:innen nisten sich mehr und mehr in die US-Regierung ein. Vor allem Ex-Präsident Donald Trump öffnete ihnen die Türen. Einer von ihnen ist jetzt die neue Nummer drei der staatlichen Rangfolge nach dem US-Präsidenten und dessen Vize: der US-Sprecher des Repräsentantenhauses Mike Johnson.
"Er ist der Extremist der Extremisten", sagt Buchautor und Verfassungsrechtler Andrew Seidel. Der US-Amerikaner warnt in seinem Buch "The Founding Myth", dass christlicher Nationalismus die US-Demokratie gefährdet. Für ihn sei Johnson einer der Schlimmsten.
Seidel liege mit seiner Einschätzung völlig richtig, erklärt Buchautorin und Journalistin Annika Brockschmidt auf watson-Anfrage. Auch sie befasst sich intensiv mit den religiösen Rechten in den USA und warnt vor dem wachsenden Einfluss auf Regierungsebene.
"Mike Johnsons Glaube ist nicht privat, sondern treibt seine Politik an: Er unterstützte jüngst einen Gesetzentwurf für ein nationales Abtreibungsverbot und eine nationale Variante von Floridas drakonischem 'Don't Say Gay' Gesetz", führt sie aus. Der Mann sei ein religiöser Extremist.
Laut Seidel war Johnson etwa für die "Alliance Defending Freedom" (ADF) tätig (früher Alliance Defense Fund). Dabei handle es sich um eine konservative christliche Rechtsvertretung, deren Ziel es sei, die USA in eine christliche Nation zu verwandeln. Sprich, das Gesetz soll Seidel zufolge allein das konservative, christliche Patriarchat unterstützen.
Und das bedeutet vor allem ein Kampf gegen "unchristliche" LGBTQIA+-Rechte.
"Wir werden die schwierigen Dinge tun, zu denen Gott uns berufen hat", verkündet ADF-Präsidentin Kristen Waggoner auf der Website der Organisation. Es heißt, "Alliance Defending Freedom" sei eine der führenden christlichen Anwaltskanzleien, die sich für den Schutz der Religionsfreiheit, der Meinungsfreiheit, der Ehe und Familie, der elterlichen Rechte und der Unantastbarkeit des Lebens einsetzt.
Jedoch sind hier offenbar nur Ehen zwischen Mann und Frau erwünscht. "Die schöpferische Fähigkeit der Vereinigung von Mann und Frau verbindet die Ehe mit der Familie. Ein Mann und eine Frau geben sich einander hin, und daraus wird ein Kind gezeugt", heißt es auf der Website. Das sei die "Grundlage der Zivilisation".
Sprich, gleichgeschlechtliche Liebe stellt eine Gefahr für die Gesellschaft dar. "Die Alliance Defending Freedom wird vom Southern Poverty Law Center als 'Hate Group' eingestuft", sagt Brockschmidt. Laut ihr will die Organisation die Rechte von LGBTQIA+-Personen massiv beschneiden.
Sie sagt:
Dabei betont auch Brockschmidt: Johnson habe jahrelang als Anwalt für die ADF gearbeitet – und zwar aus Überzeugung. Jetzt ist er Chef des US-Repräsentantenhauses. Die meisten fragten sich wohl "Mike who"? Denn der Republikaner war zuvor weitgehend unbekannt, nun graben die US-Medien mehr und mehr Informationen über den 51-jährigen Abgeordneten aus Louisiana aus – vieles davon dreht wohl so einigen den Magen um.
Die US-Zeitschrift "Vanity Fair" fasst es gut zusammen: Johnson ist ein Klimaskeptiker, der versucht hat, die Wahlen 2020 zu kippen, der vehement gegen Abtreibung ist, der glaubt, dass Massenerschießungen durch die Evolutionslehre verursacht werden, und der Dinge gesagt hat wie "homosexuelle Beziehungen sind von Natur aus unnatürlich und schädlich und kostspielig für alle".
Laut ihm sei demnach das "Römische Reich" zerfallen, weil es Homosexuelle geduldet habe. Brockschmidt zufolge argumentierte er in der Vergangenheit dafür, gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr zu kriminalisieren und hetzte immer wieder gegen LGBTQIA+-Personen.
Wie sich herausstellt, hat Johnsons mit seiner Frau Kelly einen perfekten "Partner in Crime" im Kampf gegen LGBTQIA+-Personen.
Laut "Vanity Fair" betreibt Kelly Johnson einen christlichen Beratungsdienst, der etwa Homosexuelle gleichsetzt mit Menschen, die Sex mit Tieren oder Familienmitgliedern haben. All das seien Sünden, die Gott beleidigen. Nun wurde die Website ihres "Onward Christian Counseling Services" vom Netz genommen, berichtet das US-Online-Magazin "Queerty".
In einem Interview mit dem US-Sender Fox-News meint Kelly, dass ihr Mann von Gott auserwählt wurde, um der neue US-Sprecher zu sein. "Das ist biblisch", schwärmt sie. Auf die Frage, wie das Ehepaar mit der großen Aufmerksamkeit durch die Medien umgeht, nimmt Mike Johnson seine Frau in Schutz.
"Sie sollte aus dem Spiel sein. Als Ehemann nehme ich jeden Pfeil, das ist in Ordnung", sagt er. Aber die Medien sollten die Finger von seiner Frau lassen. Kelly sei der freundlichste und netteste Mensch auf der Welt.
Die Einstellung der schrecklich netten Familie Johnson könnte aber auch das Sexualleben von Menschen beeinflussen, die sich laut ihnen wie von der Bibel vorgesehen in eine Person mit dem "richtigen Geschlecht" verlieben. Es geht um Verhütungsmittel.
"Auf sein früheres Abstimmungsverhalten angesprochen, was das Verbot von Verhütungsmitteln angeht, behauptete Johnson kürzlich, sich nicht erinnern zu können und wich der Frage aus, ob er heute erneut so abstimmen würde", sagt Brockschmidt. Im Sommer 2022 stimmte Johnson gegen die Kodifizierung des Rechts auf Geburtenkontrolle.
Zum Hintergrund: Nachdem der Oberste Gerichtshof "Roe v. Wade", also das Recht auf Abtreibung 2022 aufgehoben hatte, forderte Richter Clarence Thomas das Gericht auf, auch andere Rechte auf Privatsphäre aufzuheben – darunter das Recht auf Empfängnisverhütung und die Gleichstellung der Ehe.
Auch warnen Expert:innen davor, dass die religiösen Rechten ein totales Abtreibungsverbot durchsetzen könnten. Auf die Frage einer Reporterin von Fox-News, ob Johnson dieses Vorhaben unterstützt, antwortet er: "Ich komme mit tiefen persönlichen Überzeugungen in den Kongress."
Mit diesen Überzeugungen gehört er laut Brockschmidt dem Dominionismus an. Der Begriff steht für den Glauben, dass die US-Regierung von Christ:innen ausgeübt werden sollte, basierend auf biblischem Gesetz. Johnson wolle die Theonomie, also das sittliche Handeln nach den Geboten Gottes – das sei eine Unterform der Theokratie, führt die Journalistin aus.
Unter Theokratie versteht man eine "Gottesherrschaft", in der die Machthaber ihre Herrschaft dadurch rechtfertigen, dass sie sich auf einen göttlichen Willen berufen. "Dass ein waschechter Theokrat der 'Kompromisskandidat' der Republikaner ist, und jetzt an zweiter Stelle in der Präsidentschaftsnachfolge steht, sollte uns allen zu denken geben", meint Brockschmidt.
Es sei auch ein Zeichen dafür, wo der Mainstream der republikanischen Partei unter Donald Trump steht.