Kirchen.
Unzählige Kirchen.
Baptistische, methodistische und mennonitischen Kirchen sowie die der Jünger Christi und der Siebenten-Tags-Adventist:innen – etliche Gotteshäuser schmücken das Geburtsland von Rock'n'Roll und Playboy: die Vereinigten Staaten von Amerika. Vor allem in den Südstaaten, in dem sogenannten "Bibelgürtel", leben viele gottesfürchtige Menschen.
Die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung bezeichnet sich selbst als Protestant:innen. Dabei sind die christlichen Glaubensrichtungen in den USA sehr unterschiedlich aufgestellt. Allein der Protestantismus besteht aus unzähligen Untergruppen.
Spätestens seit der Oberste Gerichtshof das verfassungsgebundene Recht auf Abtreibung gekippt hat, fragt man sich, was in den USA los ist. Um das zu beantworten, kommt man nicht an einer Bewegung vorbei, die sich unbemerkt mobilisiert hat: der weiße, christliche Nationalismus.
Diese fundamentalistischen Christ:innen wünschen sich ein neues altes Amerika: ohne Recht auf Abtreibung, keine gleichgeschlechtlichen Ehen, keinen Sex vor der Ehe. Ein Land, in dem die Bibel als Gesetzesvorlage für alle gottesfürchtigen Amerikaner:innen gilt.
Ziel ist es, die Vorherrschaft des Christentums zu erhalten und vielerorts wieder herzustellen. Das geht so weit, dass sich Christ:innen privilegiert fühlen, an die US-Regierungen besondere Erwartungen zu stellen. Vor allem soll der christliche Glaube allgegenwärtig in der öffentlichen Kultur Amerikas bleiben und verstärkt werden.
Der US-Soziologe Philip Gorski sieht darin eine große Gefahr – und hat dazu die besten Köpfe aus Wissenschaft und Medien einberufen. An der Universität Yale diskutierten die Expert:innen über die neue Bedrohung Amerikas.
"Viele unterschätzen diese Bewegung in den USA. Dabei hat sie längst radikale, autoritäre Formen angenommen. Sie führen Krieg gegen die Demokratie", sagt die Journalistin Katherine Stewart.
Laut der Professorin der Columbia Universität, Anne Nelson, haben sich die religiösen Rechten extrem gut vernetzt – von der Waffenlobby bis hin zur Republikanischen Partei. Aber auch medial sind sie erfolgreich und erreichen Millionen über Fernseher, Radio, Social Media und Handy-Apps. Die Bewegung möchte hoch hinaus und das Land verändern.
Stewart zitiert einen Pastor, den sie bei einem Event der christlichen Nationalist:innen getroffen hat. Er sagte: "Die Kirche ist kein Kreuzfahrtschiff, sie ist ein Kampfschiff." Und das gefällt einem Republikaner besonders gut: Donald Trump. Längst nutzt er den weißen, christlichen Nationalismus als Werkzeug für seine politischen Machtspiele.
Sie haben nach ihrem "Erlöser" gesucht und ihn in dem ehemaligen US-Präsidenten gefunden. Weiße Christ:innen strömen zu seinen politischen Auftritten, die zunehmend an religiöse Massenevents erinnern.
"Trump hat dieser Bewegung die Türen bis ins Weiße Haus geöffnet und alle bisherigen Normen zertrümmert", sagt Stewart. Unter anderem sitzen durch Trump drei konservative Richter:innen im Supreme Court. Eine von ihnen, die strenggläubige Amy Coney Barrett sagte in ihrer Zeit als Jura-Professorin an der katholischen Universität Notre Dame in einer Vorlesung, eine Karriere in der Justiz sei nur ein "Mittel zum Zweck" – Ziel sei es, "das Reich Gottes aufzubauen".
Der Politikprofessor Bart Bonikoswki von der Universität New York warnt vor der Annahme, dass Trumps Anhänger:innen auf seine Lügen "hereinfallen" würden. Untersuchungen zeigten: Die meisten wissen, dass Trump lügt – und sie lieben es. Daher bringe "Fakten-Checken" bei diesen Menschen nichts mehr. Und das beeinflusst immer mehr die politische Atmosphäre in den USA.
Trump versteht die Macht der rechten Christen, sagt die Journalistin Sarah McCammon. Jetzt stehe die Bewegung davor, die Demokratie des Landes zu bedrohen – mit seiner Hilfe.
So stürmten am 6. Januar radikale Anhänger:innen von Trump das Kapitol in Washington D.C. Auf ihren Flaggen, Mützen und T-Shirts standen Sprüche wie "Jesus ist mein Retter, Trump ist mein Präsident". Bei den kommenden Midterms könnte laut Eric McDaniel ebenfalls wieder politische Gewalt ausbrechen.
Der Politikprofessor der Universität Texas meint, die traditionelle Lebensweise in Amerika schwinde so rasant, dass einige "the American way of life" mit Gewalt schützen wollen. Eine dieser "Bedrohungen" seien Migrant:innen.
"Das Land verändert sich. Das weckt bei weißen Amerikanern das Gefühl, sie seien kein Teil mehr davon", sagt die Religionsprofessorin Anthea Butler. Sie fürchten sich, dass Migrant:innen aus Asien, Südamerika und Osteuropa die Oberhand gewinnen. In Städten wie Atlanta leben bereits mehrheitlich schwarze Menschen. Laut Butler sehen die Weißen im christlichen Nationalismus einen Zufluchtsort, der sie beschützt – auch vor möglichen Vergeltungen für die schreckliche Vergangenheit der Sklaverei.
Dann überrascht Butler mit folgender Aussage: Auch Afroamerikaner:innen schließen sich dem weißen, christlichen Nationalismus an. "Wenn du keine Macht hast, schaut 'Whiteness' verlockend aus", sagt die Professorin von der Universität Pennsylvania. Weiter erzählt sie:
Neben Migrationswellen vereint eine weitere "Gefahr" die christlichen Nationalist:innen: Menschen mit unterschiedlichen Identitäten oder sexuellen Orientierungen – vor allem trans* Menschen.
Die deutsche Journalistin Annika Brockschmidt warnt vor einer globalen ultrarechten Dämonisierung von trans* Menschen. Dabei hebt Brockschmidt hervor, wie schnell die rechten Christen vom anti-LGBT-Diskurs hin zum anti-trans-Diskurs gewechselt sind. Damit konzentrieren sie sich auf eine kleinere, verletzlichere Minderheit und präsentieren sich als "starker Schutz der Kinder und der patriarchalischen Kernfamilie". Sie dämonisieren und attackieren eine "Gruppe" und rücken sich selbst ins gute Licht, nach der Devise "Wir wollen nur die Kinder schützen". Dies sei eine typische Taktik Rechter, sagt Brockschmidt.
"Rettet die Kinder" – lautet der Slogan christlicher Nationalist:innen. Brockschmidt zufolge hört sich das verlockend für Menschen an, die nichts über trans* Menschen wissen. Sie schauen sich anti-trans* Inhalte auf TikTok an und rutschen laut Brockschmidt in die Propaganda-Spirale des rechten Flügels.
Autoritäre brauchen eine potenzielle Gefahr für das Volk – und für die radikalen Christ:innen sind das eben LGBTQ-Menschen. Diese Entwicklung sieht man auch in Europa – wie etwa in Ungarn, Serbien, Italien und Russland.
In der jüngsten Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putins brandmarkte er die westliche Gesellschaft als "satanistisch" aufgrund ihrer "verschiedenen Geschlechtern". Der Westen würde sich von "traditionellen" und "religiösen" Werten abwenden.
Putin und die weißen Nationalist:innen Amerikas verbindet der Hass gegen kleine, verwundbare Minderheiten und das Hervorheben der "traditionellen Familie". Religion und Politik fahren auf einer Schiene. Auf diesen Zug springen auch die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán auf – mit voller Fahrt voraus nach rechts.