"Hängt Mike Pence", schreit ein wütender, teils bewaffneter Mob vor dem US-Kapitol. Am 6. Januar 2021 versammeln sich Frauen und Männer vor dem Regierungsgebäude. Ihre Mission: Sie wollen die Bestätigung des Wahlsieges von Joe Biden verhindern.
"Bringt den Verräter Pence raus", fordert die radikale Gefolgschaft des damals scheidenden Präsidenten Donald Trump. Kurz vor dem Sturm auf das Kapitol heizt dieser seine Verbündeten bei einer Rede ordentlich an. Er verbreitete seine haltlose Theorie der gestohlenen Wahl – ein Schritt, den sein ehemaliger Vizepräsident Pence nicht mit ihm gehen wollte.
"Der Sinneswandel von Pence kam spätestens am 6. Januar, als Trump ihn dazu drängte, gegen die Verfassung zu handeln", sagt US-Experte Andrew Denison auf watson-Anfrage. Zudem habe Trump ihm unterstellt, er sei ein Verräter, was von den Stürmenden des Kapitols sehr ernst genommen wurde, meint der Direktor des Transatlantic Networks.
Diese machten regelrecht Jagd auf den damaligen Vizepräsidenten, als sie in das Kapitol eindrangen. Aufnahmen zeigen, wie Pence und seine Familie vor dem wütenden Mob flüchteten. Und Trump? Der verfolgte dem Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses zufolge alles wohlwollend vor dem Fernseher.
Trump soll sich sogar darüber beschwert haben, dass Pence in Sicherheit gebracht worden war. Das berichtet die New York Times. Laut des damaligen Stabschefs des Weißen Hauses, Mark Meadows, soll Trump etwas in der Art gesagt haben, dass Pence gehängt werden sollte. Mittlerweile wurde der Ex-Präsident im Zusammenhang mit der US-Wahl 2020 und dem Sturm aufs Kapitol angeklagt.
Lange weigerte sich Pence, bei den Ermittlungen zum Kapitol-Sturm auszusagen – doch das Blatt wendet sich nun.
"Pence war nicht bereit, gegen Trump und vor dem Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses auszusagen. Erst vor dem Sonderermittler Jack Smith hat er dann doch ausgesagt, samt Nutzung von persönlichen Notizen", sagt Denison.
Nimmt Pence einen Sonderermittler mit all seiner rechtlichen Legitimation ernster als einen "politisierten" Untersuchungsausschuss oder hat sich seine Meinung über Trump und seine Rolle im Kampf gegen ihn geändert? Laut Denison bleiben die Antworten darauf zunächst unklar.
Doch eines ist nicht zu übersehen: In den vergangenen Jahren zeigt sich ein deutlicher Richtungswechsel bei Pence.
Der 64-Jährige lehnt sich gegen Trump und seine loyale Anhängerschaft auf. So sagte er gegen seinen ehemaligen Chef im April aus. Stundenlang habe er als Zeuge in einem Bundesgericht in Washington Rede und Antwort gestanden, berichteten US-Medien.
Im Juni stellte er sich offiziell als Bewerber für die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner vor. Damit fordert er Trump direkt heraus. Im selben Monat besuchte er als erster Präsidentschaftskandidat der Republikaner die Ukraine und sprach sich für die US-Militärhilfen aus – während Trump-treue Republikaner diese scharf kritisieren.
Laut Denison kandidiert Pence aus Überzeugung, um seinen Ruf zu verbessern, wenn nicht sogar, um Trump zu schwächen.
Pence sehe sich als "Märtyrer mit einer Mission zur Reinigung seines Gewissens", meint Denison. Dabei betont der Politikwissenschaftler: "Kaum eine Aussage könnte für Trump gefährlicher sein."
Auch für den USA-Experten Dominik Tolksdorf steht fest: Pence ist einer der wichtigsten Kronzeugen der Ereignisse vor und während des 6. Januar. "Er stellt dadurch für Trump eine Gefahr dar", sagt er auf watson-Anfrage. Politisch werde das aber kaum Auswirkungen auf Trumps Chancen im Vorwahlkampf der Republikaner haben, meint der Experte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Denn: Trumps Kernwähler:innen sehen in den Anklagen und Verfahren gegen Trump eine Hexenjagd und werden in den Vorwahlen für den Ex-Präsidenten stimmen. Pence rebelliert trotzdem gegen das politische Schwergewicht Trump, dessen Agenda er vier Jahre lang mitgetragen hat.
Laut Tolksdorf hat spätestens in den Wochen nach der Wahlniederlage vom November 2020 ein Sinneswandel bei Pence stattgefunden. "Im Gegensatz zu Trump glaubte Pence nicht, dass die Wahlen manipuliert wurden", meint Tolksdorf. Und doch habe ihn Trump dazu gedrängt, die Zertifizierung der Wahlergebnisse zu manipulieren.
Tolksdorf zufolge hat sich Pence spätestens nach diesen Ereignissen von Trump abgewendet – und das offenbar aus Überzeugung. "Seitdem betont er, dass niemand über der Verfassung steht. Pence ist wohl tatsächlich überzeugt davon, dass Trump eine große Gefahr für die US-Verfassung ist", meint der USA-Experte.
Er führt weiter aus:
Laut dem USA-Experten Thomas Greven wissen die konservativen Christen genau, dass Trump keiner der ihren ist. "Dieser Teil der Basis der Republikaner ist die einzige Hoffnung für Pence", sagt er auf watson-Anfrage. Greven ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Nordamerikastudienprogramm der Universität Bonn und Privatdozent für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
"Von Trump und seinem Personenkult hat Pence nichts zu erwarten, da kann sich Floridas Gouverneur Ron DeSantis eher Chancen ausrechnen", meint Greven.
Allerdings sei die Basis der Republikaner in dem Bundesstaat Iowa sehr von konservativen Christen geprägt. Dort könnte Pence durchaus gut abschneiden und dann auf ein Momentum hoffen.
Insofern sei er konsequent, etwa bei der Forderung bezüglich eines bundesweiten Abtreibungsverbots, die weder Trump noch DeSantis explizit übernommen haben. Pence will wohl Stimmen bei den konservativen, rechten Christen sammeln – eine nicht zu unterschätzende Bewegung in den USA.
Am Ende sei Pence aber nur einer von vielen, die sehr lange gebraucht haben, um zu begreifen, dass es Trump immer nur um sich selbst geht, meint Greven. Laut ihm wollte sich Pence nicht zum "Büttel für Trumps Versuch" machen, im Amt zu bleiben – trotz Wahlniederlage. Durch seine "prinzipientreue, verfassungsgemäße Weigerung" sei er heute bei einem großen Teil von Trumps Basis verhasst.
Laut Trump sei Pence "zu ehrlich", meint Denison. Das sieht der US-Experte anders: "Er hätte von Beginn an viel ehrlicher sein müssen, mit sich selbst und mit der Nation."