Demonstranten in St. Petersburg auf einem Protest gegen den Krieg in der Ukraine.Bild: ap / Dmitri Lovetsky
Die Stimme
27.02.2022, 10:0708.06.2022, 19:46
An einem normalen Abend könnte man mit Sergey in jeder Club-Schlange stehen und problemlos an den Türstehern vorbeistolzieren.
Auf seinem Instagram-Kanal posiert der 30-jährige Russe mit dunklem Teint, Catwalk-Lächeln und entschlossenem Blick für die Kameralinse. Dabei wirkt er wie jeder andere junge Metropolenbewohner, der in Friedenszeiten sein Leben genießt.
Aber seit einigen Tagen ist nichts mehr normal.
Nicht für Sergey, nicht für seine Altersgenossen in der Ukraine, nicht für die mit Abstrichen friedliche europäische Nachkriegsordnung.
Eine Ukrainerin vor einem durch einen Raketenangriff zerstörten Haus.Bild: dpa / Emilio Morenatti
Seit russische Soldaten in die Ukraine einmarschiert sind, steht Sergey nicht vor Clubs, sondern gemeinsam mit anderen russischen Bürgerinnen auf der Straße in Sankt Petersburg, um gegen den Krieg zu protestieren.
Die 1.300 Kilometer von Berlin entfernte Hafenstadt ist die zweitgrößte Stadt Russlands und die viertgrößte Europas.
Und seit Kurzem ist sie Schauplatz von Demonstrationen gegen die militärischen Aggressionen eines autoritären Regimes, das Kritiker mit brutalsten Methoden aus dem Weg zu räumen versteht.
"Als ich die ersten Aufrufe auf Instagram gesehen habe, war ich nicht sicher, ob überhaupt jemand kommt", sagt der Grafik-Designer im Gespräch mit watson. "Aber ich habe gefühlt, dass es das einzig Richtige war, das zu tun."
"Fucked Up": So beschreibt diese Demonstrantin in St. Petersburg, frei übersetzt, Wladimir Putin .null / privat
Also habe er Freunden über einen Messenger geschrieben und zusammen hätten sie sich auf den Weg gemacht. Als sie gegen frühen Abend in der Nähe des großen Einkaufscenters Gostiny Dvor ankamen, war der Bereich schon großräumig abgesperrt.
"Ich weiß nicht, wie viele Menschen dort waren, weil wir uns nicht getraut haben, näher heranzukommen. Gestern wurden in Sankt Petersburg vierhundert Personen verhaftet, und alle genau an diesem Ort."
Das Regime unterdrückt Protest
Auch in zahlreichen anderen Städten Russlands hatten Bürgerinnen und Bürger in den vergangenen Tagen gegen den Krieg demonstriert. Das berichtet unter anderem das Bürgerrechtsportal OWD-Info, auf dem unter anderem detaillierte Informationen zu Festnahmen und Menschenrechtsverstößen gesammelt und veröffentlicht werden.
In einem Eintrag von Mittwoch wird etwa über die Festnahme von sechs Personen in Moskau berichtet. Dort heißt es:
"Auf dem Puschkin-Platz in Moskau nahm die Polizei sechs Aktivisten fest. ... Die Sicherheitskräfte nahmen Aleksey Belenkin, Mikhail Leipunsky, Grigory Shiyanov, Tatyana Kozlova, Olga Zelikina und Daria Maslennikova fest. Wohin die Aktivisten gebracht werden, ist noch nicht bekannt. Einige der Inhaftierten standen in einzelnen Streikposten gegen den Krieg mit der Ukraine, andere standen einfach auf dem Platz."
Dem Portal zufolge seien bisher mehr als 1700 Menschen in 53 russischen Städten festgenommen worden. "Allein 940 Festnahmen seien in der Hauptstadt Moskau gezählt", berichtet die "Welt" mit Bezug auf Informationen von OWD-Info.
Verhaftung in der U-Bahn
Auch Sergey weiß, wie unerbittlich das russische Regime gegen echte und vermeintliche Oppositionelle vorgeht. "Es ist gefährlich", sagt er watson.
"Ich wurde selbst vor einem Jahr von der Polizei verhaftet, an dem Tag, als der Dissident Alexei Nawalny festgenommen wurde." Dabei habe er nicht einmal demonstriert, sondern sei nur zur falschen Zeit aus der U-Bahn ausgestiegen und habe dann den ganzen Tag auf der Polizeiwache verbringen müssen.
"Nein zum Krieg" steht auf dem Plakat einer Demonstrantin in St. Petersburg.Bild: Privat
"Wenn sie dich mehr als zweimal bei Protesten erwischen, kannst du bis zu fünf Jahre ins Gefängnis kommen", sagt Sergey. "Deshalb haben die Menschen Angst." Aber trotzdem gebe es keinen anderen Weg, seine Ablehnung auszudrücken. "Deshalb gehen Menschen weiter auf die Straße."
Auch in Deutschland haben sich seit Beginn des Einmarsches in vielen Städten Menschen zu Anti-Kriegs-Protesten versammelt.
In Hamburg etwa demonstrierten nach Polizeiangaben am Freitag 4.500 Menschen, die Elbphilharmonie wurde in den ukrainischen Nationalfarben angestrahlt.
Die Elbphilharmonie in Hamburg erstrahlt in Blau-Gelb.Bild: dpa / Christian Charisius
Für Sonntag ist eine zentrale Veranstaltung mit 20.000 Teilnehmerinnen in Berlin geplant. Aufgerufen dazu haben unter anderem DGB und Verdi, Greenpeace, WWF, BUND und Naturfreunde, die linke Organisation Attac, die Flüchtlingshilfsorganisation Seebrücke, die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, das Netzwerk Friedenskooperative und Pax Christi.
In dem Aufruf heißt es unter anderem:
"Wir fordern die russische Regierung auf, sofort alle Angriffe einzustellen, sich aus der Ukraine zurückzuziehen und deren territoriale Integrität wieder herzustellen. Wir sind solidarisch mit den Menschen in der Ukraine, die unter dem Konflikt leiden und deren Leben jetzt bedroht ist. Und wir setzen uns dafür ein, dass die Grenzen Europas offen bleiben, die Visafreiheit für Ukrainer*innen bestehen bleibt, und wir alle Flüchtenden aus der Ukraine aufnehmen und sie herzlich willkommen heißen."
In einem Interview mit watson sagte die Fluchtforscherin Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien am Donnerstag, Europa müsse sich auf bis zu einer Million geflüchteter Menschen aus der Ukraine einstellen.
Bisher seien bereits 1,5 Millionen Ukrainer innerhalb der eigenen Grenzen geflüchtet, als nächstes würde vermutlich das Nachbarland Polen betroffen sein, daneben die Nachbarländer Slowakei, Rumänien und Ungarn.
In Sankt Petersburg und in anderen Städten Russlands werden die Proteste gegen die militärische Invasion in der Zwischenzeit wohl weitergehen, trotz aller Gefahren und Repressionen durch staatliche Behörden.
Demonstrantinnen in Sankt Petersburg.Bild: dpa / Dmitri Lovetsky
Ein für den 5. März geplanter zentraler Friedensmarsch wurde nach aktuellen Informationen von OWD-Info vom Moskauer Bürgermeisteramt nicht genehmigt.
Am 22. Februar hätten demnach Aktivisten bei den zuständigen Behörden der Stadt eine Benachrichtigung über die Abhaltung einer Kundgebung gegen den Krieg mit der Ukraine eingereicht. Der ursprüngliche Plan sei gewesen, vom Weißrussischen Bahnhof zum Lubjanka-Platz zu marschieren.
Fast jeder, den er persönlich kenne, sei gegen den Krieg in der Ukraine und gegen Präsident Wladimir Putin, sagt der 30-jährige Sergey. "Viele Demonstranten versammeln sich, um ihrem Gefühl der Hilflosigkeit und des Schmerzes Ausdruck zu verleihen."
Mehr könne man zur Zeit nicht tun.
Menschen sprechen lassen
Hinter jeder Katastrophe stecken eigene Geschichten. Wir lassen sie von denen erzählen, die sie erleben.
Auf diesem Bild ist nicht Sergey zu sehen, er wollte anonym bleiben.Bild: ap / Dmitri Lovetsky
Oleksii ist mit Frau und Kindern auf der Flucht. Wenn sie sicher sind, will er kämpfen.Bild: Privat
Julia ist Ukrainerin. Sie lebt in Berlin und erzählt von ihrer FamilieBild: watson / Czypull
Seine Freunde leben im Krieg. Dimitri in Berlin. Er hat Forderungen an die deutsche Regierung.Bild: Privat
Unsere Autorin ist Deutsch-Russin. Gesprächen mit ihren Eltern geht sie aus dem Weg.Bild: imago images / Jochen Eckel
Kateryna ist Dolmetscherin. Bei einer Live-Übertragung beginnt sie, zu weinen.Bild: privat / sofya stoyanovska
Kate ist eine russische Anti-Kriegs-Aktivistin aus MoskauBild: privat / privat
Rafael ist Russe und lebt in Warschau. Er will nie wieder zurück in sein Heimatland.Bild: Privat