Die Demonstration "Stand with Ukraine" hat in 28 europäischen Städten gleichzeitig stattgefunden. Auch in München vor dem Bayerischen Hof, in dem die Sicherheitskonferenz tagt.Bild: dpa / Felix Hörhager
Die Stimme
22.02.2022, 10:2210.06.2022, 11:15
"Ich verstehe dich nicht! Wo bist du? Es ist zu laut hier, lass uns hinter dem Zelt treffen!", ruft eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. Der Rest der Worte wird vom Lärm der Demonstration "Stand with Ukraine" verschluckt. Nur fünf Minuten später überquert eine junge Frau den Platz des 18. März und läuft auf den Treffpunkt am Brandenburger Tor zu.
Sie hat ein kleines Mädchen in einem grau-pinken Schneeanzug an der Hand. Das Gesicht des Mädchens wird fast ganz von einer Kapuze verdeckt. Sie wirkt sichtlich durchgefroren und etwas müde. Schüchtern blickt die Tochter der jungen Frau auf den Boden, linst nur kurz unter der Kapuze nach oben.
Die Frau lacht verhalten und streicht sich eine hellbraune Haarsträhne aus dem Gesicht, die unter ihrer hochgezogenen Jacke hervor gerutscht war. "Du bist Laura, richtig? Wir hatten telefoniert?", fragt Julia Eichhofer. Die Ukrainerin hat sich eine Flagge ihres Heimatlandes um die Schultern gelegt und eine mintfarbene Yogamatte über dem Arm hängen. Ihre Tochter hatte es sich auf der Matte während der Demonstration gemütlich gemacht, erklärt sie.
Demonstranten der Kampagne "Stand with Ukraine" auf dem Platz des 18. März am Samstag in Berlin.bild: laura czypull
Watson hat sich mit Julia auf der Demonstration "Stand with Ukraine" getroffen, die vom Verein Kyjiwer Gespräche und dem Zentralverband der Ukrainer in Deutschland e.V. organisiert wird. Dabei handelt es sich um eine internationale Protestaktion, die in 28 Städten Europas zur Solidarität mit der Ukraine aufruft.
Ihrer fünfjährigen Tochter möchte Julia schon früh beibringen, "wie man für seine eigenen Werte einsteht", erklärt Julia. Sie hat Familie und Verwandte in Lviv und Kiew in der Ukraine und lebt selbst in Berlin. Julia ist 32 Jahre alt und Programmdirektorin der Ukraine-Projekte beim Zentrum Liberale Moderne (LibMod). Das Zentrum versteht sich als "unabhängige Denkwerkstatt, ein Debattenforum und ein Projektbüro". Dabei reichen die Themenfelder "von internationalen Fragen bis zu gesellschaftspolitischen Herausforderungen", schreibt das LibMod über sich.
Julia Eichhofer beim Protest "Stand with Ukraine".bild: watson / laura czypull
Watson hat vor dem Protest mit Julia telefoniert und sie hat erzählt, wie die Situation in der Ukraine aktuell im Hinblick auf den Russland-Ukraine-Konflikt ist und was die Ukraine von Deutschland erwartet.
Notkoffer mit Pässen und Bargeld
Julia erzählt am Telefon:
Invasion am 16. Februar?
Der US-Geheimdienst CIA soll nach Informationen des "
Spiegel" herausgefunden haben, dass Russland die Ukraine am 16. Februar angreifen wolle. Das ist allerdings bisher nicht eingetreten. US-Außenminister Antony Blinken warnt jedoch weiterhin vor einem baldigen russischen Angriff.
"Vergangene Woche ist die Stimmung bei meinen Verwandten in der Ukraine gekippt. Man war irritiert. Denn auf der einen Seite erklärt die ukrainische Regierung, dass es keine Bedrohung gibt, man wisse nichts vom 16. Februar als Kriegsbeginn und auf der anderen Seite berichten die Medien in der Ukraine von den Aussagen der CIA über einen geplanten Einmarsch der russischen Soldaten und greifen die Berichterstattung der ausländischen Medien auf.
Also eine Panikmache wurde mit dem Vorgehen der ukrainischen Regierung nicht verhindert. Es herrscht viel mehr eine kognitive Dissonanz: Man lebt auf der einen Seite weiter wie zuvor, die Cafés sind offen, die Straßen sind voll, aber sobald man die Nachrichten öffnet, ist die Stimmung ganz anders.
Die Menschen bleiben vor Ort, aber sie haben alle zu Hause einen Notkoffer mit Pässen, Arzneimitteln und Bargeld stehen. Man informiert sich über mögliche Notunterkünfte, Initiativen bieten Erste-Hilfe-Kurse oder auch Selbstverteidigungskurse an und es organisieren sich sogenannte territoriale Abwehreinheiten. Dort werden Freiwillige ausgebildet, die im Kriegsfall Position beziehen können.
Nach einer Massenevakurierung kommt ein Bus mit Flüchtlingen aus Donezk an der west-ukrainischen Grenze an.Bild: TASS / Erik Romanenko
Meine Mutter arbeitet in einem Kindergarten in Lviv, im Westen der Ukraine. Sie berichtet mir von einer gedrückten Stimmung. Denn in den letzten Monaten kam es jetzt schon mehrfach zu Bombenmeldungen, die allerdings von unbekannten Quellen stammen. Das bedeutet dann für die Kindergärten, dass sie geräumt werden müssen und die Kinder erst wieder rein dürfen, wenn alles überprüft wurde.
"Unter vielen Menschen herrscht ein gewisser Patriotismus. Sie wollen ihr Land eher verteidigen, als fliehen."
Julia Eichhofer über die Stimmung in der Ukraine
Am Wochenende war ich auch zutiefst besorgt und habe mir schon alle Festnetznummern geben lassen, falls das Mobilfunknetz im Kriegsfall zusammenbricht. Unter vielen Menschen herrscht aber ein gewisser Patriotismus und sie wollen ihr Land eher verteidigen als fliehen. Diese patriotische Einstellung kommt zum einen von der Struktur im Land und in den einzelnen Familien und zum anderen von der Aussage der ukrainischen Regierung, man müsse das Land verteidigen. Es wäre anders, wenn der Staat kommunizieren würde, man würde kapitulieren.
Ich selbst würde im Fall einer Eskalation in Deutschland bleiben, meiner Tochter zuliebe. Aber auch, weil ich denke, dass ich von Berlin aus bessere humanitäre Hilfe vor Ort koordinieren kann. Ich würde also zum einen versuchen, humanitäre Hilfe zu koordinieren, aber auch Informationsarbeit im Zentrum Liberale Moderne leisten.
Wir haben vor, eine Anfrage an die Flüchtlingsbehörden zu schreiben und in Erfahrung zu bringen, wie viele zur Aufnahme von Flüchtlingen zur Verfügung stehen würden und das dann auch kommunizieren. Generell würde ich Druck auf die deutsche Regierung machen, dass sie helfen muss.
"Allein aufgrund des Lebensstandards werden die Menschen nach Deutschland fliehen."
Julia Eichhofer über eine mögliche Eskalation des Konflikts
Grundsätzlich bin ich mir aber gar nicht so sicher, wohin die Menschen flüchten würden. Die Ukraine ist ein großes Land und es wird zum Glück nicht überall geschossen. Der Westen des Landes ist vergleichsweise sicher. Dorthin werden sicherlich einige fliehen. Polen hat sich auch bereiterklärt, Flüchtlinge aufzunehmen, aber ich denke, die Menschen werden allein aufgrund des Lebensstandards nach Deutschland gehen.
Eine Explosion im Bezirk des ostukrainischen Lugansk, der selbsternannten Volksrepublik Luhansk. Bild: Sputnik
Um Russland abzuschrecken, sollte Deutschland Waffen liefern. Auch die Sanktionen gegenüber Russland sind noch zu schwach und müssten verschärft werden. Und wo verdient Russland sein Geld? In Deutschland. Russische Oligarchen lassen in deutschen Werften ihre Yachten bauen. Es bräuchte also erstens Waffenlieferungen, zweitens Sanktionen und drittens müssten die Konten reicher Privatleute eingefroren werden.
Putin ist zwar nicht das Schlimmste, das der Ukraine bisher passiert ist, aber er hat auch auf der menschlichen Ebene einen großen Keil zwischen die Ukraine und Russland getrieben."
Menschen sprechen lassen
Hinter jeder Katastrophe stecken eigene Geschichten. Wir lassen sie von denen erzählen, die sie erleben.
Auf diesem Bild ist nicht Sergey zu sehen, er wollte anonym bleiben.Bild: ap / Dmitri Lovetsky
Oleksii ist mit Frau und Kindern auf der Flucht. Wenn sie sicher sind, will er kämpfen.Bild: privat
Julia ist Ukrainerin. Sie lebt in Berlin und erzählt von ihrer Familie.Bild: watson / Czypull
Kateryna ist Dolmetscherin. Bei einer Live-Übertragung beginnt sie, zu weinen.Bild: privat / sofya stoyanovska
Seine Freunde leben im Krieg. Dimitri in Berlin. Er hat Forderungen an die deutsche Regierung.Bild: Privat
Unsere Autorin ist Deutsch-Russin. Gesprächen mit ihren Eltern geht sie aus dem Weg.Bild: imago images / Jochen Eckel
Kate ist eine russische Anti-Kriegs-Aktivistin aus MoskauBild: privat / privat
Rafael ist Russe und lebt in Warschau. Er will nie wieder zurück in sein Heimatland.Bild: Privat