"Wer die Geschichte schreibt, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Geschichte", wusste schon George Orwell in seinem Roman "1984" zu sagen. Nach diesem Prinzip versucht der russische Machthaber Wladimir Putin seine Interessen durchzusetzen.
Propaganda, Eingriffe auf das Lehrmaterial in Russland und Fake News sind mächtige Waffen, derer er sich bedient.
Nun kehrt der sowjetische Diktator Josef Stalin zunehmend ins russische Bewusstsein zurück – und mit ihm ein gefährlicher Geschichtsrevisionismus.
Stalin regierte die Sowjetunion von 1927 bis zu seinem Tod 1953 und hinterließ ein Land im Trauma. Millionen Menschen wurden ermordet, deportiert, in Arbeitslager gesteckt. Doch heute erinnern sich viele in Russland vor allem an den "Sieg gegen Hitler" im Zweiten Weltkrieg. Der "Große Vaterländische Krieg", wie er in Russland genannt wird, gilt noch immer als identitätsstiftendes Ereignis.
Stalin als siegreicher Feldherr passt da gut ins patriotische Bild.
Immer mehr Statuen und Gedenkorte werden errichtet, in der Moskauer Metro-Station Taganskaja etwa eine Rekonstruktion eines Stalin-Reliefs aus den 1960ern. Damals wurde das Original im Zuge der Entstalinisierung entfernt. Heute nennt man die Nachbildung wieder feierlich: "Dankbarkeit des Volkes gegenüber dem Führer und Kriegsherrn".
Auch geografisch wird zurückgedreht: Wolgograd, einst Stalingrad, bekommt seinen alten Namen zurück – zumindest symbolisch für den Monat Juni. Präsident Wladimir Putin, lange kein offensiver Stalin-Verehrer, hat die Umbenennung genehmigt. Offiziell, um an die Schlacht von Stalingrad zu erinnern. Inoffiziell: ein weiterer Schritt in Richtung Geschichtskosmetik.
"In Moskau ist dies die erste derartige Wiederherstellung historischer Gerechtigkeit als Hommage an den Generalissimus", jubelte Alexander Juschtschenko, Abgeordneter der kommunistischen Partei, laut "Standard"
Nicht alle machen mit. Die liberale Oppositionspartei Jabloko kritisiert die Rückkehr der Stalin-Symbole scharf. Für Maxim Kruglow, Abgeordneter der Partei, ist das Vorgehen der Stadt Moskau ein direkter Affront gegen die Bürger:innen: "Wir halten es für inakzeptabel, Symbole, die mit der dunkelsten Periode in der Geschichte unseres Landes in Verbindung gebracht werden, wieder in den öffentlichen Raum zu bringen."
Für ihn ist die Wiederbelebung der Stalin-Ikonografie eine "Verhöhnung der Nachkommen der Unterdrückten und eine Schande für Moskau".
Wer heute in Russland mehr über die dunkle Seite Stalins erfahren will, hat es schwer. Die Menschenrechtsorganisation Memorial, die über 60.000 Akten aus der Stalin-Ära archiviert hatte, wurde 2021 verboten. Ihr Archiv war für viele Angehörige die einzige Möglichkeit, das Schicksal ihrer verschollenen Familienmitglieder zu rekonstruieren. 2022 erhielt Memorial für ihre Arbeit den Friedensnobelpreis – international geehrt, im eigenen Land geächtet.
Diese Geschichtsverklärung hat Konsequenzen. Eine aktuelle Umfrage des russischen Netzportals "VFokuse" unter 22.000 Menschen aus 50 Regionen zeigt ein klares Bild, auch wenn sie nicht repräsentativ ist: Rund 60 Prozent halten Stalin für einen "herausragenden oder bedeutenden Staatsmann".
Nur 29 Prozent äußerten sich kritisch. Für viele ältere Generationen war Stalin ein Trauma, das weitervererbt wurde – oft unausgesprochen. Der Soziologe Alexej Roschin erklärte laut "Standard": "Selbst diejenigen, die behaupten, nichts davon mitbekommen zu haben, haben ihre Erlebnisse höchstwahrscheinlich einfach verdrängt."
Der 44-jährige Alexandr aus Moskau erinnert sich im "Standard" an die Erzählungen seiner Großmutter: "Am Todestag Stalins herrschte in ihrer Familie eher Freude als Entmutigung." Erst später habe er in der Schule gelernt, was damals wirklich geschah. Heute macht ihm die gesellschaftliche Entwicklung Sorgen: "Weil die Objektivität gegenüber historischen Ereignissen verloren geht und das nicht nur für Russland, sondern auch für Europa charakteristisch ist."