Russland verletzt Nato-Luftraum: Experte ordnet Provokation ein
Längst macht sich der russische Angriffskrieg in ganz Europa bemerkbar. Bereits Anfang September meldete Polen eine Verletzung des eigenen Luftraums durch mehrere russische Drohnen, wenige Wochen später wurde aus Rumänien ein ähnlicher Vorfall öffentlich.
Am vergangenen Freitag meldete das estnische Außenministerium dann, dass drei russische Kampfflugzeuge nahe der zu Estland gehörenden Insel Vaindloo vorgedrungen und dort für insgesamt zwölf Minuten geblieben waren. Wenig später wurde auch aus der Sicherheitszone einer polnischen Bohrinsel ein Überflug bekannt.
Russland verletzt estnischen Luftraum: Was ist das Ziel?
Zwar ist weder in Estland noch in Polen jemand zu Schaden gekommen, die Jets vom Typ MiG-31 haben bei ihrem Flug keinerlei militärische Angriffe durchgeführt. Sie waren, salopp gesagt, einfach da. Für viele kommt die Häufung der Luftraumverletzungen durch Russland dennoch einem neuen Grad der Eskalation in der Beziehung zum Westen gleich. Aber stimmt das?
Tatsächlich dürfte es dem Kreml bei den Flügen vor allem um eben jene Provokation gehen. Abseits von der offensichtlichen Unterstützung der westlichen Partner für die Ukraine testet Russland die konkrete Reaktionsbereitschaft der Nato.
"Russland testet, wie schnell die Nato zum Beispiel Jets hochschickt – und wie viele. Dann schaut man, was machen diese Jets und wie wird das dann politisch diskutiert", bestätigt Helge Adrians, Sicherheitsexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im Gespräch mit watson.
Ein klares Risiko besteht demnach auch darin, dass die Nato in ihrer Reaktion zu weit geht und somit dank russischem Narrativ als Auslöser einer größeren Krise dargestellt werden könnte.
Laut Adrians spielt bei der Provokation vonseiten Russlands allerdings ein zweiter Punkt eine sehr viel wichtigere Rolle: die öffentliche Kommunikation. "Russland ist jetzt wieder ein Thema in unserer öffentlichen Debatte geworden", erklärt er. "Was hat Russland vor? Was möchte Russland? Wie können wir Russland beschwichtigen? Wir reden gerade mehr über diese russischen Provokationen, als über das, was in der Ukraine geschieht."
Automatisch verschiebe sich der Diskurs im Umgang mit Russland durch die provokanten Überflüge in eine Richtung, die mehr auf die Ansichten des Kremls ausgerichtet ist. Aus Sorge vor einer weiteren Eskalation läge schließlich der Gedanke nahe, sich doch erneut mit gewissen Forderungen Russlands auseinanderzusetzen.
Tatsächlich aber zielt das Land laut Adrians eben nicht auf die Eskalation, sondern auf genau diese Reaktion ab. Militärexpert:innen sprechen hier von Informationskriegsführung.
Nato-Beratungen stehen aus: Was ist die angemessene Reaktion?
Was aber ist die Alternative? "Vertreter der Nato als auch ihrer Mitgliedsländer wie Deutschland müssen sich jetzt zusammensetzen und bis ins Detail Optionen entwickeln, wie man auf einzelne Szenarien reagieren würde", sagt Helge Adrians. "Denn Russland wird natürlich versuchen, uns auf dem falschen Fuß zu erwischen, sprich, dass wir entweder überreagieren oder schlecht kommunizieren."
Estland hatte am Freitag bereits Konsultationen nach Artikel 4 des Nato-Vertrags mit den Verbündeten beantragt. Das Treffen von Vertreter:innen der 32 Bündnisstaaten zu dem Vorfall soll demnach Anfang nächster Woche in Brüssel stattfinden.
Deutschland und die Frage der russischen Provokation
Konkret muss laut Adrians aber auch Deutschland weiter an der interministeriellen Kommunikation arbeiten, um geschlossen auf Drohgebärden des Kremls reagieren zu können. Erst Anfang September hatte die Bundesregierung in diesem Zusammenhang einen Nationalen Sicherheitsrat gegründet, der ans Bundeskanzleramt angedockt ist.
In dem Ausschuss sollen außen- und sicherheitspolitische Fragen künftig gebündelt diskutiert werden. Zuvor hatte es häufig Unstimmigkeiten zwischen den einzelnen Stellen gegeben. Derartige Schwachstellen wären für Russland ein willkommenes Schlupfloch.
Eine weitere, gewissermaßen aktivere Reaktion der Nato könnte sich auf die gesteigerte Unterstützung der Ukraine fokussieren. "Genau dann wäre Russlands Provokation eben nicht erfolgreich", betont Helge Adrians gegenüber watson.
Neben Trainingsmaßnahmen für ukrainische Streitkräfte trägt Deutschland seit Langem mit Waffenlieferungen wie Panzern, Munition und Drohnen zur Unterstützung bei. Diese könnte weiter intensiviert werden – gemeinsam von allen Nato-Partnern. Die Ukraine fordert das spätestens seit des zweifelhaften Rückhalts aus den USA ohnehin seit Wochen.
Die USA selbst könnten im Falle einer weiteren Provokation aber durchaus auch eine Rolle in der Reaktion der Nato spielen. "In Polen etwa haben die USA sehr viele Truppen stationiert", merkt Adrians an. "Was ist, wenn so eine Drohne falsch gelenkt ist und es kommt ein amerikanischer Soldat zu Schaden?" Zwar sei die konkrete Reaktion auf solche Szenarien nur schwer vorhersehbar. Dennoch sei klar, dass das Thema allgemein auch viel mit Empathie für die eigenen Truppen zu tun habe.
Entsprechend unterschiedlich dürften in der kommenden Woche auch einzelne Positionen im Rahmen der Nato-Beratungen ausfallen. Dennoch zeigt die Provokation Russlands einmal mehr die Bedeutung der Geschlossenheit der Nato-Partner.