In den vergangenen Wochen steigt der Druck auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. An der Front zeichnen sich einige Probleme ab.Bild: imago images / Ukraine Presidency
Analyse
10.11.2023, 15:5110.11.2023, 15:54
Die Ukraine bringt gepanzerte Technik über den Fluss Dnipro und hält die Stellung an der hart umkämpften Stadt Awdijiwka. Derweil bereitet der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Regierung auf die EU-Beitrittsverhandlungen vor.
Läuft doch ganz gut für die Ukraine, könnte man meinen. Doch laut des Konfliktbeobachters Nikita Gerasimov von der Freien Universität Berlin rollen auf Selenskyj fünf große Probleme zu. Für watson ordnet Gerasimov diese ein und gibt am Ende einen Ausblick auf mögliche Lösungsmöglichkeiten.
Gefahr eines Stellungskrieges
Kilometerweite Schützengräben, Schlamm, Blut, endloses Warten bis zum nächsten Kampf, die Jahre verfliegen. Wer im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, erinnert sich an Geschichten über den Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg.
"Ähnlich wie der Erste Weltkrieg ist auch der Krieg in der Ukraine an den meisten Frontabschnitten zu einer statischen Stellungsschlacht geworden", warnt Gerasimov. Die Seiten erringen laut ihm höchstens kleinere lokale Erfolge. Allerdings zum Preis horrender Verluste, die in keiner Relation zu den eroberten Quadratmetern stehen.
"Viele Abschnitte wechseln permanent die Kontrolle hin und her, weil sich keine der Seiten festsetzen kann. Die Pattsituation ist vor allem durch ein Dominieren von Defensivmitteln über Offensivkapazitäten entstanden", führt er aus. Beide Seiten verfügen einerseits über gestaffelte, massiv ausgebaute Defensivlinien und gleichzeitig über nicht genug Offensivkapazitäten, um größere Durchbrüche zu erringen.
Ein ukrainischer Soldat steht in einem Schützengraben in der Nähe von Marjinka in der Region Donezk.Bild: AP / Libkos
"Der Krieg wird dadurch zu einer statischen Materialschlacht an den Schützengräben, die höchstens darauf hinausläuft, wessen menschliche und technische Ressourcen schneller zermalmt werden", sagt der Konfliktbeobachter. Und hier liege Russland mit den größeren menschlichen Ressourcen im Vorteil. Aber das ukrainische Militär sei nicht chancenlos.
Laut des Experten könnte die Ukraine einen Vorteil der materialtechnischen Versorgung haben, da sie in der Theorie den gesamten westlichen Militärblock hinter sich hat – vorausgesetzt, dass der politische Wille bestehen bleibt. Denn da ruckelt es momentan, vor allem in den USA.
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"Gerade die näher rückenden Präsidentschaftswahlen in den USA im Jahr 2024 könnten entscheidend werden, ob der Westen die technische Unterstützung weiter aufrechterhalten kann und will", sagt Gerasimov. Sein Fazit lautet: Im Großen und Ganzen berge ein langer Stellungskrieg die größeren Gefahren für die Ukraine, weil der Krieg auf dem ukrainischen Territorium tobt und der Zerstörungsgrad von Woche zu Woche auf dem ukrainischen Territorium steige.
Tödliche Minenfelder
Mittlerweile gilt die Ukraine als "das größte Minenfeld" der Welt. Heute sollen etwa 40 Prozent der gesamten Landfläche der Ukraine vermint sein, erklärt der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal. "Soldaten beider Seiten beschreiben die Minenfelder als den größten Schrecken", meint Gerasimov.
Denn: Der Tod lauert unsichtbar unter den Füßen. Der Konfliktbeobachter kennt Fälle, in denen ganze Einheiten sich in den Minenfeldern verirren und Soldaten dort einer nach dem anderen zum Opfer fallen.
Das Hauptproblem seien die Ausmaße der Minenfelder. An manchen Abschnitten sollen sie bis zu 20 Kilometer breit sein. Selbst moderne Minenräumsysteme schaffen es, Schneisen von höchstens mehreren Hundert Metern auf einmal freizuräumen, sagt Gerasimov. Eine effektive und schnelle Überwindung von Minenfeldern existiere dadurch de facto nicht. Dies habe auch die ukrainische Offensive massiv beeinflusst.
Beginn der Regenperiode
Die Schlamm- und Regenperiode steht bevor. In Osteuropa oftmals unter dem Begriff "Rasputiza" bekannt. Laut Gerasimov verschärft sie den Effekt des Stellungskrieges umso mehr. "Schwere Militärtechnik versinkt im Dreck. Panzerkolonnen bleiben mitten auf aufgeweichten Feldern stecken und werden zum Ziel der Artillerie und Drohnen", führt er aus. Tiefe Offensivoperationen werden dadurch noch schwieriger bis unmöglich.
Zwei Männer ziehen ein Auto aus dem Schlamm in der Nähe von Bachmut. Bild: imago images / Erik Prozes
Steigender Munitionshunger
Die militärischen Produktionskapazitäten arbeiten sowohl in Russland als auch in der Ukraine und dem Westen bereits an ihrem Limit, meint Gerasimov. Die Lager seien leer. Produktionskapazitäten kommen nicht hinterher.
Demnach sei eine intensive Artillerievorbereitung für Großoperationen kaum noch möglich, oder müssen für jede Aktion sorgfältig aufgespart werden. Eine Ausweitung der Produktionslinien wäre laut des Experten in der Theorie möglich, scheitert allerdings je nach Land am politischen Willen oder den wirtschaftlichen Möglichkeiten.
Er sagt:
"Selbst die weltweiten Waffenmärkte sind ausgeschöpft oder bieten auch gewöhnliche Artilleriemunition zu vielfach höheren Preisen als vor dem Krieg. Der Krieg in Israel verschärft den Effekt."
Durch den Krieg in der Ukraine steigt die Nachfrage nach Munition an. Bild: AP / Evgeniy Maloletka
Jetzt schon werden US-Transportflieger nach Israel umgeleitet, statt in die Ukraine zu fliegen. In den USA werde zudem mittelfristig ein möglicher China-Taiwan-Konflikt befürchtet, für den ebenfalls militärische Kapazitäten zurückgehalten werden. Mit anderen Worten: Es sei nicht absehbar, dass der Munitionshunger in naher Zukunft überwunden werden kann.
Streitigkeiten zwischen Selenskyj und Saluschnyj
Seit mehr als 20 Monaten wehrt sich die Ukraine gegen den Angriffskrieg Russlands. Bisher zeigte sich die Führung in Kiew stets geeint. Doch Berichte über einen möglichen Konflikt zwischen der ukrainischen Regierung und dem ukrainischen Generalstab nehmen Fahrt auf.
"In den vergangenen Wochen haben diese deutlich an Substanz gewonnen", sagt Gerasimov. So befeuern die jeweiligen Interviews von Selenskyj und Armeechef Walerij Saluschnyj die Gerüchte. Denn ihre Einschätzung zum Krieg unterscheiden sich laut des Experten "diametral".
Sprich, der optimistische Idealist Selenskyj trifft auf den pragmatischen Realist Saluschnyj. Der eine glaubt unbeirrt an den Erfolg der Offensive. Der andere stellt klar: Mit einem weiteren Fortschritt sei kaum noch zu rechnen. Laut Saluschnyj hat sich der Bodenkrieg in der Ukraine festgefahren.
Der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Waleryj Saluschnyj.Bild: Ukrainian Presidency / -
"Dazu kommen Kündigungen im Generalstab, verdächtige 'Unfälle' von hochrangigen Saluschnyj-Gefolgsleuten – es sind verschiedene Puzzlestücke, die in der Gesamtaufnahme ein beunruhigendes Bild von womöglich großen Diskrepanzen in Kiew abgeben", sagt Gerasimov.
Diskrepanzen, die durch die gescheiterte Sommeroffensive zunehmen, weil intern vermutlich die Suche nach dem Schuldigen begonnen hat.
Kürzlich verstarb ein enger Berater des Oberbefehlshabers Saluschnyj bei der Explosion eines seiner Geburtstagsgeschenke. Womöglich hielt der Beschenkte die Granaten für Attrappen, heißt es. Die Ermittlungen dauern an.
Viele Probleme, wenig Auswege für Selenskyj
Eines steht fest: Eine Fertiglösung für einen schnellen militärischen Sieg gibt es laut Gerasimov nicht. Saluschnyj habe von einem ruckartigen technologischen Vorsprung gesprochen, der die militärische Balance brechen und den Sieg bringen könnte. Allerdings bleibe es offen, welches Mittel konkret diesen Vorsprung gegen Gegner wie Russland bringen könnte, sagt der Experte.
Viele Waffen, die als "Game-Changer" hochgelobt wurden, seien es Himars-Mehrfachraketenwerfer, Leopard-Panzer oder ATACMS-Raketen, brachten Gerasimov zufolge nicht den großen Durchbruch. "Auch die westlichen F-16-Kampfjets werden dies nicht schaffen", prognostiziert er.
Selenskyj führt die Ukraine mehr als 20 Monate durch den Krieg gegen den Aggressor Russland.Bild: imago images / Ukraine Presidency
Gerasimovs Fazit lautet: Vorgespräche für mögliche Friedensverhandlungen seien unter diesen Umständen die logische Konsequenz. Laut Medienberichten haben diese nun hinter den Kulissen begonnen.
Andere Expert:innen argumentieren, dass die derzeitige militärische Unterstützung des Westens für einen Sieg nicht ausreichend sei und sich die Ukraine daher in dieser "Pattsituation" befände.