Trotz hunderter Festnahmen und massiver Drohungen seitens der Regierung reißen die landesweiten Proteste im Iran nach dem Tod der jungen Jina Mahsa Amini nicht ab. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatte neue Sanktionen gegen das Land gefordert. Die EU hatte die gewaltsame Niederschlagung regimekritischer Demonstrationen im Iran verurteilt.
Die EU forderte, dass der Iran die Zahl der Toten und Verhafteten klärt, alle gewaltlosen Demonstranten freilässt sowie den Inhaftierten ein ordnungsgemäßes Verfahren gewährt. Der Tod von Amini müsse ordnungsgemäß untersucht und die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden.
Der Iran hat Kritik der Europäischen Union am Vorgehen gegen die andauernden Proteste im Land zurückgewiesen. "Das ist Einmischung in die internen Angelegenheiten des Irans und Unterstützung von Krawallmachern", sagte Außenamtssprecher Nasser Kanaani am Montag. Der Fall Mahsa Amini werde untersucht, aber die EU und der Westen ignorierten diese Tatsache und unterstützten Unruhestifter, die die Sicherheit des Irans gefährdeten, sagte der Sprecher.
Diese Demonstrierenden, die der Außenamtssprecher als "Unruhestifter" bezeichnet, bezeichnen viele Iran-Beobachter:innen als mutig und beeindruckend. "Das ist der Protest der jungen Menschen", sagt Gilda Sahebi gegenüber watson. Die Politikwissenschaftlerin und Journalistin ist im Iran geboren und in Baden-Württemberg aufgewachsen.
Die Protestierenden seien größtenteils unter 35, zumindest unter 40 Jahre alt, sehr viele weiblich – aber nicht nur. Viele junge Männer schlössen sich den Demonstrationen an. Und es gehe längst nicht mehr um den Kopftuchzwang, offiziell Hijab-Pflicht genannt. "Das ist nur die Spitze des Eisbergs." Sahebi führt aus: "Die Frauen sind absolut und systematisch entrechtet – in jedem Bereich der Gesellschaft."
Sollte der Kopftuchzwang irgendwann wegfallen, kämen alle anderen Themen hoch. Längst wird bei den Demonstrationen die Systemfrage gestellt. Parolen wie "Tod dem Diktator" und "Islamische Republik, wollen wir nicht", gehören zu den gängigen.
Ziviler Ungehorsam ist Teil der Protestbewegung: Aufrufe zu Streiks in den kurdischen Gebieten und Aufnahmen von Frauen, die ganz ohne Kopfbedeckung durch die Straßen ziehen, sind zu sehen – wenn überhaupt noch Informationen und Material aus dem Land kommen.
Das Regime hat das Internet gedrosselt. So weit, dass nur ganz langsam oder gar nichts mehr nach außen dringen kann. Die Protestierenden begeben sich zuweilen in Lebensgefahr.
Iranische Behörden meldeten mehr als 1200 Festnahmen. Mindestens 41 Menschen seien zu Tode gekommen. NGOs geben die Zahl der Getöteten höher an. Iran Human Rights (IHR) berichtet von mindestens 57 getöteten Demonstrant:innen. Die Bundesregierung hat den iranischen Botschafter einbestellt. Die iranische Justizbehörde plant Sondergerichte für festgenommene Demonstrant:innen.
"Die Justizbeamten sollen mit ihnen genauso wie mit Vergewaltigern und Schwerverbrechern umgehen", sagte Ali Alghassimehrso, Justizchef der Hauptstadt Teheran. Zu den Sondergerichten soll auch das Revolutionsgericht gehören, das für Verstöße gegen die nationale Sicherheit zuständig und für seine harten Urteile berüchtigt ist.
Mit rechtlichen Schritten müssten auch prominente Iraner:innen rechnen, falls sie sich mit den Demonstrierenden solidarisierten, meinte Alghassimehrso. Zuletzt haben immer mehr Film- und Sportstars die Proteste unterstützt. Darunter auch ehemalige und aktuelle Fußballspieler.
Bundesligaprofi Sardar Azmoun (Bayer Leverkusen) hatte das Vorgehen der Sicherheitskräfte in den sozialen Medien kritisiert. Auch der ehemalige Bayern- und Schalke-Profi Ali Karimi zeigte auf Instagram seinen Unmut über das Geschehen.
Die Stimmung im Land ist aggressiv. Schon lange gab es Fotos und Videoaufnahmen, wie Sittenpolizei oder schiitische Geistliche (umgangssprachlich Mullahs) Frauen beschimpften oder gleich körperlich angegriffen haben, deren Kopfbedeckung nicht nach iranischer Vorschrift saß.
"Es gibt Videos, wo die Frauen zurück schimpfen und die Szene filmen", sagt Expertin Sahebi. "Daran sieht man, dass die Angst und der Respekt vor den Mullahs total bröckeln. Die wichtigsten Waffen sind der Mut und die Entschlossenheit."
Diese Entschlossenheit kommt laut Sahebi aus der Sehnsucht nach Freiheit. Die Jugend, die jetzt auf den Straßen protestiere, kenne nur dieses Regime: die Islamische Republik Iran. Durch den Kontakt zu Verwandten im Ausland, und durch den Konsum von westlichen Serien und Filmen, seien sie über das Leben in Europa oder den USA informiert. "Das hinterlässt eine Sehnsucht", meint die Iran-Expertin. Und sie führt aus: "Sie sehen das, was das Regime ihnen verwehrt. Und sie wissen, dass sie ein Recht auf diese Freiheiten haben."
Nach dem Arabischen Frühling 2011, der im Iran auch verfolgt wurde, wüsste die junge Bevölkerung, dass Proteste Diktaturen stürzen könnten. Auch wenn die Entwicklung danach "in vielen Ländern leider schiefgegangen ist".
Doch was unterscheidet die aktuellen Proteste von früheren? Die es Ende der 90er Jahre gab, oder die großen Demonstrationen nach der Präsidentschaftswahl 2009. Diese wurden brutal niedergeschlagen. Dass dies erneut passiert, befürchtet Sahebi, "weil sie einfach die absolute Übermacht haben". Damit meint die Expertin das Militär, paramilitärische Gruppen (die sogenannten Revolutionsgarden) und auch Freiwilligenmilizen (Bassidschi).
Letztere waren immer wieder der Sitten- oder auch Moralpolizei beigeordnet und sind für ihr brutales Vorgehen berüchtigt. "Ich glaube, dass es schwierig wird, so ein Regime zu stürzen, ohne Gewalt, ohne militärische Gewalt", sagt Sahebi. "Einen Systemsturz sehe ich in den nächsten Wochen nicht kommen."
Doch sie hat die Hoffnung, dass diese Proteste der Beginn einer organisierten Bewegung werden könnten. Die Protestierenden hätten sich jetzt vernetzt. "Sie sind vereint in ihrem Bedürfnis nach Freiheit."
Auch sexuelle Freiheit spielt eine Rolle. Neben Frauenrechten seien auch queere Rechte thematisiert worden. Homo- und Bisexuelle werden im Iran staatlich verfolgt. Transmenschen werden gesellschaftlich geächtet. Unter jüngeren Menschen ändere sich die Einstellung. "Dieser Protest ist so identitätsstiftend. Und das hatten wir so noch nicht."
(Mit Material von afp und dpa)