Seit Wolodymyr Selenskyjs Land über Nacht angegriffen wurde, ist der ukrainische Präsident immensem Druck ausgesetzt. Sein Volk zählt auf ihn, die Soldat:innen, die an der Front ihr Leben riskieren, vertrauen darauf, dass es nicht umsonst ist. Die Last, die auf den Schultern des ukrainischen Präsidenten liegt, fühlt sich wohl ungeheuerlich schwer an.
Mit dieser Last fliegt Selenskyj über den Atlantik in die USA, er will sich danach leichter fühlen, aber die Republikaner packen noch mehr Gewicht obendrauf. Selbst dem US-Präsidenten Joe Biden sind die Hände gebunden, ihm zu helfen.
Es war Selenskyjs dritter Besuch in Washington seit Beginn des russischen Angriffskrieges. Er steht im starken Kontrast zu seiner Reise in die US-Hauptstadt vor einem Jahr. Damals konnte er vor beiden Kammern des Kongresses eine Rede halten und wurde wie ein Held gefeiert.
Doch Ende 2023 stößt er auf taube Ohren bei den Republikanern. Die US-Hilfen für die Ukraine stehen auf der Kippe.
Die Freigabe neuer US-Mittel für das von Russland angegriffene Land wird derzeit von einem Streit im US-Parlament zwischen Republikanern und Bidens Demokraten blockiert. Mehr und mehr Republikaner zeigen Zweifel an der Unterstützung für die Ukraine oder lehnen diese völlig ab.
Den Demokraten von US-Präsident Biden fehlt die notwendige Mehrheit, ihre Unterstützung für die Ukraine allein durch das Parlament zu bringen. Das wissen auch die US-Republikaner und lehnen sich weit aus dem Fenster: Sie erpressen regelrecht die Biden-Regierung.
Sie fordern mehr Mittel zum Schutz der US-Südgrenze und strengere Regeln in der Migrationspolitik, erst dann stimmen sie den Ukraine-Hilfen zu. An dieser Haltung konnte auch Selenskyjs Besuch nichts ändern.
Der Sprecher des Repräsentantenhauses Mike Johnson hält an dem Plan fest, trotz persönlicher Unterhaltung mit dem ukrainischen Präsidenten. Bidens Regierung verlange vom Parlament die Freigabe von Milliarden Dollar für die Ukraine, lege aber keine klare Strategie vor, wie das Land mit der Unterstützung den Krieg gewinnen wolle, sagt er im Anschluss.
Es brauche Klarheit darüber, was mit dem Geld in der Ukraine geschehe und wie die Ausgaben überwacht werden sollten. Er betont, dass bei allen Ausgaben die nationale Sicherheit an erster Stelle stehen müsse.
Er verkündet, dass das Repräsentantenhaus durchaus vor einer Abstimmung über neue Ukraine-Hilfen in die Weihnachtsferien gehen könne. Damit wäre eine Einigung nicht vor Januar möglich.
Die Uhr tickt.
Der US-Regierung zufolge sind die bisher genehmigten Mittel bis Jahresende aufgebraucht. Währenddessen freut sich einer wohl ganz besonders: Wladimir Putin.
Biden betont, das Ausbleiben von US-Hilfen für die Ukraine wäre ein "Weihnachtsgeschenk" für den russischen Präsidenten. "Putin setzt darauf, dass die Vereinigten Staaten der Ukraine nicht mehr helfen. Wir müssen ihm das Gegenteil beweisen", sagt der US-Präsident.
Die USA würden die Ukraine mit Waffen und militärischer Ausrüstungen versorgen, solange sie könnten. Aber ohne zusätzliche Mittel sei das Land nicht mehr in der Lage, der Ukraine zu helfen, mahnt er. "Die ganze Welt sieht zu, was wir tun. Also lasst uns ihnen zeigen, wer wir sind."
Russland will die Ukraine auslöschen, schützend halten die USA gemeinsam mit der Nato ihre Hand über das Land. Seit nun bald zwei Jahren konnte die Ukraine so den militärisch überlegenen Angreifer abwehren. Das Ausbleiben weiterer Hilfen wäre fatal.
"Die Vermischung von amerikanischer Innen- und Außenpolitik ist bedauerlich", meint Politikwissenschaftler und Osteuropa-Experte Andreas Umland auf watson-Anfrage. Trotzdem sei aber anzunehmen, dass die US-Hilfe nach den Stockungen fortgesetzt wird, führt der Analyst des Stockholm Centre for Eastern European Studies aus.
Laut ihm sind die Zeichen aus den USA frustrierend. Aber seiner Meinung nach haben "solche externen Aspekte" wenig Einfluss auf die Ukrainer:innen. "Die Motivation zur Verteidigung sinkt davon nicht", sagt er. Auch nicht mit der gescheiterten Gegenoffensive der ukrainischen Truppen.
Denn Umland betont: Der Misserfolg der Landoffensive hat wesentlich mit den dysfunktionalen Beschränkungen und Verzögerungen bei den westlichen Waffenlieferungen zu tun. "Dies betrifft insbesondere Artilleriemunition, Langstreckenraketen und Kampfflugzeuge", meint er.
Angesichts dessen sollte man wohl die Erfolge der Ukraine nicht unterschätzen – vor allem im Schwarzen Meer.
"Der Hafen von Sewastopol, der seit Jahrzehnten als Heiligtum Russlands mystifiziert wird, ist faktisch teils funktionsunfähig für Moskau geworden", sagt Umland. Die Ukraine habe mit ihren westlichen Partnern eigenständig einen Handelskorridor durch das Schwarze Meer geschaffen.
Laut Umland steht 2024 weiterhin die Befreiung der besetzten Gebiete, einschließlich der Krim, im Vordergrund. Darüber hinaus gebe es weitere große Herausforderungen:
"Die EU kann hier im Rahmen des Beitrittsprozesses helfen", sagt Umland. Aber auch hier wird es für die Ukraine holprig, dank des ungarischen Präsidenten Viktor Orbán.
Putin-Freund Orbán blockiert so ziemlich alles, was die Ukraine unterstützt: das zwölfte Sanktionspaket gegen Russland, 20 Milliarden Euro für Militärhilfen an die Ukraine sowie Finanzhilfen für Kiew in Höhe von 50 Milliarden Euro, die Teil des neuen Haushaltsplans sind. Die Zustimmung für den Beginn der EU-Beitrittsgespräche mit der Ukraine verweigert er ebenfalls.
Auch hier rennt Selenskyj die Zeit davon. Ohne EU-Mittel droht der Ukraine ein Staatskollaps. Gerade angesichts des Streits im US-Kongress um die Auszahlung weiterer Gelder ist die Unterstützung durch die EU jetzt umso wichtiger.
Laut des US-amerikanischen Historikers Timothy Snyder ist dem Westen offenbar nicht ganz bewusst, was die Ukraine momentan leistet.
In einem Gastbeitrag für die "Kyiv Post" schreibt er: "Die Ukrainer erfüllen die gesamte Nato-Mission allein, indem sie einen russischen Großangriff abfangen und aufhalten." Sie schrecken laut ihm indirekt auch eine chinesische Offensive im Pazifik ab, indem sie demonstrieren, wie schwierig eine solche Operation sein würde.
Zudem verteidigt die Ukraine die Idee einer internationalen Ordnung mit Regeln und macht damit einen Krieg anderswo unwahrscheinlicher. Wirft der demokratische Westen die Ukraine am Ende Russland zum Fraß vor, wäre das ein fatales Zeichen an China, Iran und andere demokratiefeindliche Akteure.
Auf der einen Seite stehe Russlands Rücksichtslosigkeit und seine Ressourcen, führt Snyder aus. Auf der anderen Seite die Opferbereitschaft der Ukrainer und die Unterstützung des Westens.
"Ihre Aufopferung wird ausreichen, wenn unsere Unterstützung ausreichend ist", meint Snyder. Er ist Professor an der Yale University und reist immer wieder in die Ukraine, um sich selbst ein Bild vor Ort zu machen.
Er schreibt: Man werde auf diese zwei Kriegsjahre zurückblicken und staunen, wie viel die Ukrainer:innen für ihre Verbündeten getan haben. Im Februar 2024 jährt sich der völkerrechtswidrige Überfall Russlands auf das Nachbarland.
Selenskyj betont bei seinem USA-Besuch: Die ukrainischen Soldaten "beweisen jeden Tag, dass die Ukraine gewinnen kann."
(Mit Material der dpa)