
Dass Frauke Brosius-Gersdorf so ins Zentrum der öffentlichen Debatte rückt, hätte sie nicht im Traum erwartet. Bild: dpa / Britta Pedersen
Analyse
Eine Kandidatin fürs höchste Gericht. Eine orchestrierte Kampagne. Und ein Bundestag, der einknickt. Wie rechtspopulistische Medien, Desinformation und politische Mobilisierung auf Social Media die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf verhinderten.
16.07.2025, 16:3216.07.2025, 17:00
Am 11. Juli 2025 sollte Frauke Brosius-Gersdorf im Bundestag zur Verfassungsrichterin gewählt werden. Doch kurz vorher dominierte sie die Schlagzeilen – sowohl in klassischen Medien als auch bei Social Media. Vielerorts war zu lesen: Brosius-Gersdorf sei unwählbar und eine "ultralinke Aktivistin".
Schließlich scheiterte die Wahl. Offiziell fehlten entscheidende Stimmen aus der Unionsfraktion.
Doch hinter den Kulissen hatte zu diesem Zeitpunkt eine orchestrierte Kampagne längst ihr Ziel erreicht: Eine demokratische Personalentscheidung wurde durch gezielte digitale Einflussnahme ausgebremst.
Verfassungsrichter-Wahl: Rechte Kampagne gegen Brosius-Gersdorf
"Die Kampagne hat in kurzer Zeit eine enorme Kraft entfaltet und den Diskurs maßgeblich geprägt", erklärt der Datenanalyst beim Think-Tank Polisphere, Richard Schwenn, gegenüber watson. Eine aktuelle Analyse des Think-Tanks zeigt umfassend, wie strategisch diese Kampagne war.
Am 1. Juli veröffentlichte die Webseite "Apollo News" erstmals zahlreiche Anschuldigungen gegen Brosius-Gersdorf. Weitere sollten folgen. Noch am selben Tag griff Julian Reichelt, ehemaliger "Bild"-Chefredakteur und heute einer der lautesten rechtskonservativen Medienakteure, die Story auf X auf und setzte damit eine virale Dynamik in Gang.
Die Kampagne verbreitete sich rasend schnell über reichweitenstarke, rechtskonservative Medien wie "Nius", "Tichys Einblick", "Junge Freiheit" und "Compact". All diese Plattformen stehen für ein Milieu, das sich als Gegenöffentlichkeit zur sogenannten "Mainstream-Presse" versteht – mit klarer Schlagseite nach rechts. "Compact" wird vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisches Medium eingestuft.

Die Vertagung der Wahl der Verfassungsrichter schlägt hohe Wellen.Bild: dpa / Michael Kappeler
Allein bei "Nius" erschienen innerhalb von nur zehn Tagen mehr als 20 Artikel, die Brosius-Gersdorf systematisch mit Vorwürfen überzogen.
Falschinformationen über die Richterin veränderten sich gezielt
Was besonders auffiel: der strategische Wechsel der Narrative. Zunächst lag der Fokus auf der angeblichen Unterstützung eines AfD-Verbots durch Brosius-Gersdorf. Doch als deutlich wurde, dass das Thema Abtreibung emotional noch stärker mobilisierte – auch innerhalb der Unionsfraktion – verlagerte sich die Kampagne gezielt dorthin.
Konkret wurde behauptet, Brosius-Gersdorf befürworte Schwangerschaftsabbrüche bis kurz vor der Geburt – eine bewusste Verzerrung ihrer tatsächlichen juristischen Position. Sie fordert lediglich eine differenzierte Betrachtung des Schwangerschaftsabbruchs und eine Entkriminalisierung, keineswegs aber Abbrüche in späten Stadien der Schwangerschaft.
"Die angebliche Position von Brosius-Gersdorf zu Abtreibung im neunten Monat der Schwangerschaft ist eine Falschbehauptung", stellt auch Schwenn klar. "Gleichzeitig wurden auch andere Anschuldigungen – etwa zur Impfpflicht oder den Plagiatsvorwürfen – binnen kürzester Zeit durch das kommunikative Zusammenwirken verschiedener Akteursgruppen aus dem Kontext gerissen, verkürzt oder zugespitzt."
Nicht nur die Inhalte, sondern auch das Timing der Kampagne gegen Brosius-Gersdorf lässt auf strategisches Kalkül schließen. Die ersten Beiträge erschienen am 1. Juli, also exakt zehn Tage vor der geplanten Wahl zur Verfassungsrichterin im Bundestag. In dieser Phase ist die politische Meinungsbildung besonders anfällig für öffentliche Einflüsse.
Die Kampagne folgte dabei einem erkennbaren Eskalationsmuster: Zunächst kursierten Vorwürfe über ein angeblich von Brosius-Gersdorf befürwortetes AfD-Verbot, gefolgt von emotional aufgeladenen Abtreibungsnarrativen und schließlich – fast exakt 24 Stunden vor der geplanten Wahl – unbelegte Plagiatsvorwürfe.
Laut Polisphere war diese Dramaturgie kein Zufall: Die Themenwahl zielte auf maximale Polarisierung in konservativen Milieus.
Plattformen wie Tiktok spielten dabei eine entscheidende Rolle. So wurde bei der Suche nach dem Begriff "Abtreibung" unter anderem automatisch die Suggestion "Abtreibung bis 9. Monat" angezeigt. Eine faktisch falsche wurde zur algorithmisch verstärkten Desinformation. Zudem wurden dort "massiv KI-gestützte vermeintliche Nachrichten zu der Causa verbreitet und teilweise auch als Werbung geschaltet", erklärt Schwenn weiter.
Auf X hingegen riefen AfD-nahe Accounts gezielt dazu auf, CDU-Abgeordnete zu markieren und zum Widerstand gegen die Wahl zu mobilisieren. Inhalte der Kampagne wurden zum Teil auch bezahlt ausgespielt – eine Taktik, die Reichweite künstlich erhöht und das Meinungsbild verfälscht. "In diesem Fall war X die maßgebliche Diskursarena, auch im Selbstverständnis beteiligter Akteure", erklärt Richard Schwenn.
Auf beiden Plattformen sei seit Jahren eine starke Vernetzung einer sehr aktiven Nutzerschaft aus dem rechtsextremen und verschwörungsideologischen Spektrum zu beobachten.
Dem Polisphere-Analysten zufolge erinnert das Vorgehen an etablierte Strategien rechtspopulistischer Netzwerke. Gleichzeitig verweist er auf einen für Deutschland neuen Aspekt:
"Neu und besonders ist die erfolgreiche Politisierung der Justiz, was wir so bis jetzt nur aus den USA kennen, und dass sich die Stimmungsmache gegen Brosius-Gersdorf so auch in Teilen im Parlament und der parlamentarischen Entscheidung widergespiegelt hat."
Diese Gruppen nutzten das Internet strategisch zur Mobilisierung, Radikalisierung und thematischen Zuspitzung – bevorzugt mit Themen wie Migration, Familienbild oder vermeintlichen Übergriffen staatlicher Institutionen.
Frauke Brosius-Gersdorf weist alle Vorwürfe von sich
Frauke Brosius-Gersdorf wehrte sich entschieden gegen die Vorwürfe. Über 280 renommierte Jurist:innen unterstützten sie öffentlich. In der ZDF-Talkshow "Markus Lanz" stellte sie klar, dass sämtliche Anschuldigungen haltlos seien. Sie sagte dort: "Das hat es so noch nicht gegeben und ich glaube, das hätte man sich in seinen schlimmsten Träumen nicht vorstellen können, diese Art von Politisierung einer Verfassungsrichterwahl." Sie halte dies für brandgefährlich, weil das die Debattenkultur und den deutschen Rechtsstaat gefährde.

Richterin Frauke Brosius-Gersdorf spricht in der Talk-Sendung "Markus Lanz".Bild: ZDF / Markus Hertrich
Tatsächlich zeigt der Fall Brosius-Gersdorf exemplarisch, wie gefährlich die systematische Nutzung digitaler Desinformation geworden ist. Die Polisphere-Analyse macht deutlich, dass hier längst nicht mehr bloßer Meinungsaustausch stattfand, sondern eine orchestrierte Propagandaaktion zur Unterwanderung demokratischer Prozesse.
Für die demokratische Öffentlichkeit wirft der Fall grundlegende Fragen auf: Wie widerstandsfähig sind politische Institutionen gegen gezielte digitale Kampagnen? Wie kann eine Gesellschaft verhindern, dass orchestrierte Empörungswellen politische Entscheidungen beeinflussen?
Die vertagte Wahl von Brosius-Gersdorf ist mehr als ein politischer Zwischenfall. Sie ist ein Alarmsignal, das eindringlich zeigt, wie fragil demokratische Prozesse im digitalen Zeitalter geworden sind.
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