Die Gegenoffensive der Ukraine erzielt nicht die erwünschten Erfolge. Laut Regierungsangaben aus Kiew geht es nur langsam voran. Seit über einem Jahr verteidigt sich die ukrainische Armee gegen die russische Übermacht. Sie will sich wehren, muss dafür aber harte Geschütze auffahren.
Dabei ist die Ukraine auf die militärische Unterstützung des Westens angewiesen – vor allem auf die Supermacht USA. Seit Monaten steht die Diskussion über die Lieferung von amerikanischen F-16-Kampfjets im Raum. Auch bittet die Ukraine immer wieder um die Lieferungen der ballistischen ATACMS-Kurzstreckenrakete aus US-amerikanischer Produktion.
Um zu gewinnen, braucht die Ukraine schwere Waffen – aber was ist, wenn sie gar nicht gewinnen soll? Expertenstimmen werden laut, dass die USA auf die Bremse treten, weil sie wohl bei einem ukrainischen Sieg den Kollaps Russlands befürchten.
"Tatsächlich gibt es Stimmen in den USA, etwa von einigen Kongressmitgliedern, die befürchten, dass ein Russland ohne Putin noch unberechenbarer wäre", sagt USA-Experte Dominik Tolksdorf von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik auf watson-Anfrage. Er glaubt aber nicht, dass solche Befürchtungen großen Einfluss auf die Regierung haben, oder sie gar davon abhält, die Ukraine weiter zu unterstützen – im Gegenteil.
"Die US-Regierung hat aus verschiedenen Gründen ein starkes Interesse an einem ukrainischen Sieg", führt Tolksdorf aus. Denn ein Sieg würde Russland so schwächen, dass es mittelfristig keine ähnlichen Angriffskriege mehr führen kann. Zudem zeige es auch Stärke gegenüber China.
Medienberichten zufolge hat die Biden-Regierung die Lieferung von Streumunition an die Ukraine genehmigt. Es heißt, die USA würden sich darauf konzentrieren, der Ukraine eine "große Bandbreite an Munition" zu liefern, damit das Land sich gegen Russland verteidigen könne. Aber warum zögert Biden, grünes Licht etwa bei den F-16-Kampfjets zu geben?
Laut Tolksdorf könnte das zwei Gründe haben: Angst vor einem Imageschaden und einer Eskalation des Krieges.
"Die Biden-Regierung will den Eindruck vermeiden, dass ihre Politik auf Regime Change in Russland angelegt ist", meint Tolksdorf. Das sei vor allem innenpolitisch begründet, weil eine solche Politik seit der Irak-Invasion unter weiten Teilen der US-Bevölkerung sehr unpopulär ist.
Er sagt:
Doch das wohl wichtigste Argument der US-Regierung sei die Furcht vor einer Eskalation, etwa durch die Bereitstellung der ATACMS-Raketen. Tolksdorf zufolge möchte Biden unter allen Umständen vermeiden, dass die USA direkt in den Krieg verwickelt werden, oder gar noch US-Truppen eingesetzt werden. Schließlich ist Wahlkampfstimmung in den Staaten und Biden will sein Amt als Präsident 2024 behalten.
Andererseits müsse er aber auch militärische Fortschritte der Ukraine vorweisen, meint Tolksdorf. Sonst könnte die US-Unterstützung für die Ukraine wie eine "Verschwendung von US-Ressourcen" aussehen.
Daher wäre Tolksdorf nicht überrascht, wenn sich die Biden-Regierung doch noch für die Bereitstellung für etwa des ATACM-Systems entscheidet. Auch bei der Bereitstellung anderer Waffensysteme habe die US-Regierung erst gezögert und sei dann umgeschwenkt, meint Tolksdorf.
"Aber zu keinem Zeitpunkt haben die USA – und schon gar nicht die EU – ein 'all in' erwogen", sagt Politikwissenschaftler Thomas Greven auf watson-Anfrage. Er ist Redakteur bei den "Blättern für deutsche und internationale Politik" und forscht an der Freien Universität Berlin. Laut ihm wurden die Waffen an die Ukraine bisher stets "dosiert" geliefert.
Greven zufolge könnte nun auch die gescheiterte Aktion der Wagner-Privatarmee eine Rolle spielen.
Bisher seien die Intentionen hinter der Meuterei der Gruppe Wagner noch nicht schlüssig. Daher müssen bei der Waffenlieferung auch Sorgen bezüglich der innenpolitischen Entwicklung berücksichtigt werden, meint Greven. Aber auch er sieht den Hauptgrund für die vorsichtige "Dosierung" der Waffenlieferungen in der Angst vor einer möglichen Eskalation.
Er führt aus:
Greven vermutet, im Hintergrund werden Gespräche über die Verwendungsbedingungen der nun zur Debatte stehenden Waffensysteme geführt.
Aber aus verschiedenen Gründen geben die USA nicht mehr Waffen, als im Moment notwendig ist, um ihr Ziel zu erreichen, erklärt der US-amerikanische Politikwissenschaftler Andrew Denison vom "Transatlantic Networks" auf watson-Anfrage.
Das Ziel sei: Russlands Sieg verhindern, Sieg der Ukraine ermöglichen.
Dann soll sich niemand wundern, warum die Ukraine keine schnelleren Erfolge verbucht, meint wohl der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj. Es "kotzt mich an", sagte er kürzlich im Gespräch mit der "Washington Post". "Ohne eine vollständige Versorgung sind diese Pläne überhaupt nicht realisierbar", erklärte er in Bezug auf die Kritik an der ukrainischen Offensive.
Aus militärisch-operativer Sicht sei Kritik an Bidens Zögern bei der Waffenlieferung in der Tat angebracht, sagt Denison. Politisch-strategisch sei diese Zurückhaltung jedoch verständlich. Denn: Biden müsse auch die westliche Koalition zusammenhalten.
"Diese Koalition ist einzigartig in ihrer Geschlossenheit – ja, sogar noch beeindruckender als die westliche Koalition nach den Terroranschlägen am 11. September 2001. Aber sie ist zerbrechlich", betont Denison. Die Folgen einer mangelnden Einheit des Westens wären für die Ukraine gravierend, führt er aus.
Ihm zufolge ist es für Biden kein Kinderspiel, diese Koalition mit den europäischen Staaten zusammenzuhalten. "Bidens Zögern hat also mit dem Zögern mancher Europäer zu tun", meint der US-Experte.
Er führt aus:
Sprich, dass die USA ausschließlich im eigenen Interesse ohne Rücksicht auf andere handeln. Aber auch daheim müsse Biden seine "Koalition" zusammenhalten – denn nicht alle Demokraten befürworten etwa die Lieferung von Streumunition, wie jüngst angekündigt.
Laut Denison ist es daher für Biden politisch von Vorteil, wenn er "zögernd und nachdenklich" auftritt – anstatt auf Konfrontation zu gehen. Aus dem Pentagon höre man auf den Vorwurf der Zögerlichkeit, dass die Prioritäten derzeit andere seien und der Kongress nicht genügend Geld bewilligt habe.
Schließlich geht es hier um hochentwickelte Technologien, die sowohl teuer als auch schwierig zu beherrschen sind, meint Denison. "Noch zögert Biden, aber die Zeit wird kommen, in der die ATACMS als absolut notwendig erscheinen werden, und dann wird die Ukraine die Systeme bekommen", prognostiziert der US-Experte.
Die Hoffnung sei, dass die Russen das jetzt schon wissen und deshalb bald abziehen – weil der Westen die Eskalationsdominanz genieße. Laut Denison gibt es auch die Theorie, dass Systeme wie ATACMS als Faustpfand zurückgehalten werden, um Russland zum Beispiel daran zu hindern, die Atomreaktoren in Saporischschja in die Luft zu sprengen.