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Ukraine-Krieg: Wie Russland die Identität der Krimtataren ausradiert

Die Krimtataren kämpfen seit Generationen um ihre Identität, so auch die Familie von Alim Aliev.
Die Krimtataren kämpfen seit Generationen um ihre Identität, so auch die Familie von Alim Aliev. bild/ privat Alim Aliev
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Das Leid der Krimtataren: "Russland-Annexion ist nur Spitze des Eisberges"

26.12.2024, 14:2906.01.2025, 21:22
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Sie stehen nicht oft im Fokus, wenn es um den Ukraine-Krieg geht. Ihr Leiden unter Russland verläuft beinahe geräuschlos, obwohl sie seit Jahrhunderten um ihre Identität, ihre Kultur und ihr Dasein kämpfen.

Die Krimtataren spielen eine zentrale Rolle, wenn es um die Halbinsel geht. Doch kaum einer blickt auf sie.

"Auch der Fakt, dass 80 Prozent der politischen Gefangenen auf der Halbinsel Krimtataren sind, weiß kaum einer", sagt Alim Aliev im watson-Gespräch. Er stammt selbst von der Krim und macht heute als Menschenrechtsaktivist und Journalist auf das Schicksal seiner Landsleute aufmerksam.

Der Krimtatar Alim Aliev ist Mitgründer der Organisation "Crimea SOS".
Der Krimtatar Alim Aliev ist Mitgründer der Organisation "Crimea SOS".bild/ privat Alim Aliev

Russische Krim-Invasion: Moskau siedelt Russen auf Halbinsel an

Laut ihm war die gewaltsame Eroberung der Krim durch Russland am 27. Februar 2014 nur die Spitze des Eisberges einer langen Geschichte aus Unterdrückung und Verfolgung der Krimtataren.

Zum Hintergrund: Seit Frühjahr 2014 liegt die Krim in den Händen der Russen, nachdem das Land die Insel völkerrechtswidrig besetzt und annektiert hatte.

Die Geschichte wiederholt sich: Russ­land versucht die Krim durch die Umsied­lung der eigenen Bevöl­ke­rung zu kolo­nia­li­sie­ren. "Seit der Beset­zung der Krim wurden rund 800.000 Russen auf der Halb­in­sel ange­sie­delt", sagt Aliev.

Das gleiche Muster seit Jahr­hun­der­ten. Schon während der ersten Anne­xion der Krim 1783 ver­suchte die russische Zarin Katha­rina II. die indi­gene Bevöl­ke­rung der Krim­ta­ta­ren zu ver­drän­gen. Auch Diktator Josef Stalin ließ 1944 Tau­sende Tataren nach Zentralasien und in andere abgelegene Regionen der damaligen Sowjetunion deportieren – unter brutalen Umständen. Aliev nennt es Völkermord.

Die Menschen hatten kaum Zeit, ihre Sachen zu packen und wurden mit Waffengewalt in Viehwaggons gejagt, berichtet die "Bundeszentrale für politische Bildung" (bpb). Kranke und Verletzte, die nicht transportfähig waren, wurden "liquidiert". Auch diejenigen, die sich dem Deportationsbefehl widersetzten.

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Mit einer Theateraufführung gedenkt man an die Opfer der Deportation der Krimtataren 1944. Bild: imago images / Sergei Malgavko

Alievs Familie wurde damals nach Usbekistan vertrieben, dort kam er viele Jahre später, und zwar 1988, auf die Welt. "An das Land erinnere ich mich nicht, ein Jahr nach meiner Geburt konnten wir nämlich zur Krim zurückkehren", erzählt er. Dort sei er aufgewachsen, in seiner neuen, alten Heimat. Doch dann kamen die Russen – erneut.

"Ich war das letzte Mal auf der Krim im Januar 2014, als die Russen einmarschierten, befand ich mich in Kiew", sagt er. Noch im selben Jahr war er Mitgründer der Organisation "Crimea SOS", um auf die Situation der Krimtataren aufmerksam zu machen.

Krim: Russland soll schwere Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen begehen

Seit der rus­si­schen Beset­zung der Krim kommt es laut Aliev immer wieder zu Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen; über­wie­gend gegen Krim­ta­ta­ren. Ob will­kür­li­che Haus­durch­su­chun­gen, Ent­füh­run­gen, Tötun­gen sowie Versammlungsverbote, "das Leben für uns hat sich massiv geändert".

Krim, Feierlichkeiten am 7. Jahrestag der Krim-Annexion in Simferopol SIMFEROPOL, CRIMEA, RUSSIA - MARCH 18, 2021: A person holds a portrait of Russia s President Vladimir Putin during a concert in Le ...
Am 7. Jahrestag der Krim-Annexion ließt sich Kreml-Chef Wladimir Putin in Simferopol feiern.Bild: www.imago-images.de / Sergei Malgavko

"Die Russen engen uns mehr und mehr ein, um unsere Kultur auszuleben. Laut ihrer Devise seien wir nur ein Teil der 'multikulturellen' Krim, aber nicht die größte indigene Bevölkerungsgruppe der Halbinsel", sagt der Experte.

Zur Erinnerung: 1783, bevor Zarin Katha­rina II. die Krim­ta­ta­ren ver­drän­gte, machten sie laut Aliev 95 Prozent der Men­schen auf der Krim aus. Heute sind es etwa 15 Prozent.

Wer sind die Krimtataren?
Die Krimtataren sind ein muslimisches Turkvolk. Sie sind Nachkommen verschiedener ethnischer Gruppen, deren Wurzeln bis in die Antike und zu den mongolischen Nomaden der Goldenen Horde im 13. Jahrhundert zurückreichen. Die Krim ist laut "bpb" eng mit ihrer nationalen Identität verwoben. Seit Jahrhunderten haben russische wie sowjetische Anführer versucht, die Krimtataren zu verdrängen und auszurotten.

Viele Krimtataren fliehen vor Russland in die Ukraine

"Viele sind vor der rus­si­schen Besat­zungs­macht von der Krim geflo­hen, man schätzt 50.000 Men­schen. Sie leben heute vor allem in den Oblas­ten Kiew, Cherson oder Lwiw in der Ukraine", führt Aliev aus. Darunter befinden sich vorwiegend Geschäftsleute, Stu­dierende oder Jour­na­lis­t:innen.

Früher galt die Krim als das Urlaubsparadies, doch der Kreml hat die Halbinsel zu einer regelrechten militärischen Festung umgebaut. "Diese Militarisierung Russ­lands macht nicht Halt vor dem Bewusst­sein und Köpfen der Men­schen auf der Krim", meint Aliev.

In Kin­der­gär­ten werden demnach die Kleinen an beson­de­ren "Fei­er­ta­gen“ in die Uni­for­men der Sowjet­ar­mee gesteckt. Russische Veteranen besuchen Schulen und erzählen von ihren "Heldengeschichten".

"Die Kinder lernen: Die Ukraine ist der Feind­ und Russ­lands Inva­sion der Krim sei glorreich", führt Aliev aus.

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Ein Junge im Sommer-Militärlager in Nikolaevka, auf der von Russland besetzten Krim.Bild: imago images / Konstantin Mihalchevskiy

Wie Russland die Identität der Krimtataren auslöschen will

Russland greife gezielt die Identität der Krimtataren an und wolle sie mit einer neuen "rus­si­schen Identität" ersetzen. Laut russischer Propaganda seien wir ein extremistisches Volk, sagt Aliev. Viele Krimtataren werden als Extremisten oder Terroristen bezeichnet, um gegen sie vorzugehen.

"Man kämpft also nicht gegen uns Menschen, gegen die Krimtataren, sondern gegen Terroristen. Das lässt sich besser verkaufen", meint der Journalist über die russische Strategie, die Krim zu kolonisieren.

Dazu kommt der Angriff auf die Sprache. "Als ich noch ein Kind war, sagte ein Russe mal zu mir, sprich eine normale Sprache, als er mich Krimtatarisch sprechen hörte", erinnert sich Aliev. Heute ist es eine gefährdete Sprache, die kaum noch jemand beherrscht.

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In den Schulen auf der Krim werde sie höchstens als Zweitfach angeboten. Auch gehe Russland gegen die Kul­tur­gü­ter der Tataren vor. Die nicht in die rus­si­sche Ideo­lo­gie passen, werden zer­stört oder ver­un­stal­tet.

Laut Aliev ist ein Bei­spiel dafür der Khan Palast in Bacht­schis­sa­rai, der von den rus­si­schen Behör­den umge­baut wurde und so sein tra­di­tio­nel­les Gesicht verlor.

CRIMEA, RUSSIA FEBRUARY 9, 2022: Renovation work at the Khan Palace in the town of Bakhchisarai, Crimea. A 3 metre crack has appeared on the wall of the Khan Palace s Courtiers House, around which dig ...
Renovierungsarbeiten 2022 im Khan-Palast in der Stadt Bacht­schis­sa­rai auf der Krim.Bild: imago images / Sergei Malgavko

Zudem wird die Krimgeschichte von den Russen so umgeschrieben, dass die Krimtataren kaum eine Rolle darin spielen. "Russland will mein Volk auslöschen. Wie die Ukrainer kämpfen auch wir um unserer Identität", meint der Krimtatar.

Der Wille nach Gerechtigkeit treibe die Krimtataren an, sich nach all den Jahrhunderten nicht unterkriegen zu lassen. Aliev träumt davon, dass eines Tages alle Krimtataren in ihre Heimat zurückkehren können und sie eine Renaissance ihrer Kultur und Religion erleben dürfen.

Am Ende seien die Krimtataren wie ein Bumerang, meint er. "Wir kommen immer wieder zu unserem Mutterland zurück."

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