26. November im verschneiten St. Petersburg: Ein großer Mann mittleren Alters sitzt auf dem Boden. Er ist umzingelt von Angreifern, die ihn mit ihren Füßen treten. Dann gelingt es dem Opfer aufzustehen und ein paar Meter zu laufen. Entkommen kann er aber nicht. Die fünf männlichen Angreifer schlagen ihn wieder zu Boden und treten weiter auf ihn ein.
Die "White Boys Nevograd" verbreiten ein Video ihres Überfalls auf Social Media. Bei der Gruppe handelt es sich um russische Neonazis. Ihr Opfer nennen sie "khach", ein russisches Schimpfwort für Menschen aus dem Kaukasus.
Bei dem Vorfall handelt es sich nicht um einen Einzelfall. Es scheint, als sei ein dunkler Trend nach Russland zurückgekehrt: Rechtsextreme Nationalisten verbreiten Videos von brutalen Angriffen auf Minderheiten. Das berichtet der von den USA finanzierte Rundfunksender Radio Free Europe/Radio Liberty.
Jeden Monat erscheinen demnach mindestens 100 neue Clips von Gewalt gegen Migrant:innen aus dem Kaukasus und Zentralasien, Mitglieder der LGBTQIA+-Community, antifaschistische Aktivst:innen und Obdachlose im Internet. Die Zahlen stammen vom unabhängigen russischen "Nazi Video Monitoring Project" auf Telegram, das Online-Clips zu rassistischer Gewalt in Russland erfasst. Auch Betroffene berichten dort von ihren Erfahrungen.
"Ich bin ein Neurochirurg aus Indien, der in St. Petersburg lebt", heißt es in einem Beitrag. "Als ich von der Metro zu meiner Haltestelle ging, schlug mich ein Mann mit völlig verdecktem Gesicht und einer großen Schaufel von hinten. Der junge Mann, etwa 22-23 Jahre alt, begann zu schreien: 'Russland ist für Weiße, hier ist kein Platz für eine braune Person wie dich', und begann, mich mit der Schaufel zu jagen. Es war in einer belebten Gegend." Ein Journalist des Lokalmediums "Fontanka" bestätigte die Geschichte des Mannes.
Attacken wie diese gibt es laut Radio Free Europe/Radio Liberty in ganz Russland. Besonders die Regionen Moskau, Rjasan, Nowosibirsk und Omsk seien betroffen. Erst kürzlich haben neun Mitglieder der Neonazi-Gruppe "Made With Hate" in der westrussischen Stadt Kostroma zwei junge Menschen angegriffen. Die Jugendlichen waren auf dem Heimweg von einer Filmvorführung, die von linken Aktivist:innen organisiert worden war. Die Rechtsextremen schossen einem der Opfer mit einer Leuchtpistole ins Gesicht. Der Jugendliche verlor dabei ein Auge.
Auch Zahlen der russischen Nichtregierungsorganisation Sowa, die zu Rassismus und Nationalismus forscht, bestätigen den Trend. Die Organisation verzeichnete im Oktober 30 rassistische Angriffe und 20 Fälle von rassistischem Vandalismus. Insgesamt bestätigte das Zentrum in den ersten zehn Monaten des Jahres 2024 232 Fälle von schwerer, durch rechten Hass motivierter, physischer Gewalt.
Igor Sergeev, ein Forscher für zeitgenössische rechtsextreme Gruppen, geht im Gespräch mit Radio Free Europe/Radio Liberty davon aus, dass auch Nostalgie ein Grund für den Trend ist: "Das Interesse an Neonazis ist mit der allgemeinen Faszinationswelle für die 2000er Jahre in Russland wieder aufgetaucht. Die Ästhetik dieser Zeit ist bei jungen Menschen wieder populär", sagt er.
In den 1990er Jahren verbreitete sich die Skinhead-Kultur in Russland. Damit gingen auch Angriffe auf Menschen einher, die nicht russisch aussahen. Zu dieser Zeit ignorierte die Polizei diese rassistische Gewalt oft – manchmal aus Sympathie für die extremen Nationalisten, manchmal, weil das Strafverfolgungssystem des Landes im Chaos versank.
In den 2000ern erreichte die Gewalt ihren Höhepunkt. An diesem Punkt konnte die Polizei die Brutalität nicht mehr ignorieren. Zu dieser Zeit gab es Hunderte von rassistisch motivierten Morden in Russland. Radikale Nationalisten wurden inhaftiert und in den 2010er Jahren hörten die Angriffe wieder auf.
Auch jetzt gehen die Strafverfolgungsbehörden laut Radio Free Europe/Radio Liberty gegen die radikalen Gruppen vor. Gleichzeitig werden aber auch legale nationalistische Organisationen in Russland beliebter. Die bekannteste davon ist die "Russische Gemeinschaft", die von einflussreichen Politiker:innen unterstützt wird.
"Die Gewaltvideos werden in der Regel von Teenagern zwischen 14 und 20 Jahren gemacht", erklärt Sergeev. "Die meisten Mitglieder der 'Russischen Gemeinschaft' sind Menschen mittleren Alters, die mit ihrem Leben unzufrieden sind." Es gebe jedoch auch Beispiele für Kooperationen zwischen beiden Gruppen. Jugendorganisationen der "Russischen Gemeinschaft" bestünden etwa teilweise aus jungen Neonazis. Außerdem sollen die gewaltbereiten Jugendlichen Schießstände und Kampfsporthallen der Organisation nutzen, um zu trainieren.
Der russische Politiker Michail Lobanow, der im Exil in Europa lebt, geht im Gespräch mit Radio Free Europe/Radio Liberty davon aus, dass diese Förderung von Nationalismus auch vom Angriffskrieg gegen die Ukraine ablenken soll. "Alle paar Jahre verbreiten die Behörden eine Welle von Informationen, die zu rassistischer Gewalt führen. Im Moment hängt dies zweifellos mit der überwältigenden Kriegsmüdigkeit der Öffentlichkeit zusammen", sagt er.