Deutschland ist mächtig.
Der Satz liest sich vielleicht banal. Doch es ist eine einfache Wahrheit, die einige wichtige Menschen hierzulande regelmäßig vergessen: die Moderatorinnen und Moderatoren der Fernsehtrielle vor der Bundestagswahl, die die drei Kanzlerkandidierenden Olaf Scholz, Armin Laschet und Annalena Baerbock fast gar nicht mit Fragen zur Zukunft der EU belästigten – oder zum Umgang mit Europas strategischen Gegnern Russland und China.
Zu den Vergesslichen gehören auch die Gegner eines strengeren Klimaschutzes, die ernsthaft behaupten, es sei mehr oder weniger egal, welche Klimapolitik das wirtschaftsstärkste und bevölkerungsreichste Land Europas verfolgt. Und die Journalistinnen und Journalisten, die am Tag nach der Bundestagswahl ernsthaft erstaunt waren, als Scholz am Tag nach dem SPD-Sieg bei der Bundestagswahl Fragen zweier britischer Reporter in solidem Englisch beantwortete.
Überraschung, Überraschung: Deutschland ist mächtig. Und deshalb ist es für politisch Interessierte im Rest der Welt wichtig, wie es nach der Wahl und nach dem Ende von 16 Jahren Kanzlerschaft Angela Merkels weitergeht in Berlin.
Ganz besonders gilt das für andere europäische Länder.
Deshalb lohnt es sich, darauf zu schauen, mit welchen Erwartungen und Hoffnungen Menschen dort auf die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP blicken. Ein Überblick auf fünf Länder, denen aus unterschiedlichen Gründen besonders viel gelegen ist an der Zukunft Deutschlands: Großbritannien, Italien, Frankreich, Österreich und Russland.
Großbritannien ist seit Anfang 2020 offiziell kein Teil der Europäischen Union mehr. Aus Europa ist das Land natürlich nicht verschwunden. Die Beziehungen zu Deutschland haben weiter große Bedeutung: wegen des – trotz Brexit – intensiven Handels, wegen der gemeinsamen Mitgliedschaft im Militärbündnis Nato, wegen der Zusammenarbeit im Klimaschutz, bei dem Großbritannien weiter ist als Deutschland.
Mit Blick auf die Koalitionsverhandlungen in Berlin weisen britische Medien in diesen Tagen vor allem auf die ruhigen Gespräche zwischen SPD, Grünen und FDP hin, die schneller voranschritten als gedacht.
Für Aufmerksamkeit sorgte vorübergehend das Vorhaben der Ampel-Parteien, das Wahlalter auf 16 zu senken. Die Zeitung "Guardian" verwies darauf, dass in Europa Jungwähler ansonsten nur in Österreich und auf den britischen Kronbesitzen Isle of Man und Guernsey ein solch geringes Alter haben dürfen. "Ein solcher Schritt auf nationaler Ebene könnte andere Länder dazu bringen, der größten Volkswirtschaft des Kontinents zu folgen", kommentierte die Berlin-Korrespondentin Kate Connolly.
Die Beziehungen zwischen Deutschland und Italien sind momentan recht gut, gerade mit Blick auf turbulentere Zeiten in den vergangenen zwei Jahrzehnten. In Rom regiert seit Februar 2021 eine ziemlich breite Regierungskoalition aus Parteien von rechtsaußen bis links unter Führung von Mario Draghi, bis 2019 Chef der Europäischen Zentralbank: ein krasser Gegensatz zur Koalition aus den populistischen und EU-skeptischen Parteien Fünf-Sterne-Bewegung und Lega, die von 2018 bis 2019 regiert hatte.
Schon 2020 hatte Bundeskanzlerin Merkel, in der Hochphase der Corona-Krise, viele Beobachter in Italien überrascht. Die Kanzlerin stimmte einem Wunsch der damaligen italienischen Regierung zu – und machte den Weg dafür frei, dass die Europäische Union gemeinsam Staatsschulden aufnehmen kann, um gerade die besonders hart von der Pandemie getroffenen Länder zu unterstützen.
In den Jahren davor hatte Deutschland unter Merkel vielen Menschen in Italien als großer Bremser in Europa gegolten. Als das Land, das besonders streng und knausrig war, als es auf dem Höhepunkt der europäischen Schuldenfinanzierungskrise Anfang der 2010er Jahre darum ging, Griechenland, Spanien, Portugal und Italien zu helfen.
Von einer Ampelkoalition in Berlin erwarten sich vor allem pro-europäische Italienerinnen und Italiener weitere mutige Schritte für eine stärkere europäische Zusammenarbeit.
Der italienische Journalist Luca Misculin, der für das Nachrichtenportal "Il Post" arbeitet und dort unter anderem die europäische Politik im Blick hat, meint gegenüber watson:
Frankreich geht es vor allem um eine möglich schnelle Regierungsbildung in Deutschland, denn Paris übernimmt im Januar den EU-Ratsvorsitz. Deutschland kommt als bevölkerungsreichstem EU-Mitglied bei neuen Projekten eine besondere Bedeutung zu. Mit SPD, Grünen und FDP als proeuropäische Parteien erwartet Paris eine gewisse Kontinuität der bisherigen deutschen Politik, wie Éric-André Martin vom Institut Français des Relations Internationales sagt. Scholz gebe Paris als bereits bekannter und erfahrener Politiker eine gewisse Sicherheit und werde als Wunschpartner gesehen.
Eine offene Frage sei für Frankreich, ob Scholz die teilweise weit auseinander liegenden Grünen und FDP zusammenhalten könne, sagt der Experte für deutsch-französische Beziehungen. In Frankreich, meint Martin, schaue man außerdem gespannt darauf, wie Scholz die notwendigen Investitionen beim Klima vereinbaren will mit der bisher eher strikten Schuldenpolitik in Deutschland.
Wie wichtig Deutschland für Österreich ist, das hat sich in der Corona-Krise schon mehrfach gezeigt – vor allem, wenn es um den Tourismus ging. Seit dem Frühjahr 2020 haben österreichische Regierende, in Wien wie in den Landeshauptstädten von Tourismusregionen wie Tirol oder Steiermark, immer wieder (und recht erfolgreich) darauf gedrängt, Reisen deutscher Besucher nach Österreich zu ermöglichen.
Politisch hat es in den vergangenen Jahren aber immer wieder Konflikte gegeben zwischen den beiden Staaten, vor allem in der Migrationspolitik: Während die deutsche Kanzlerin Merkel immer wieder auf eine gesamteuropäische Lösung drängte, schlug sich ihr österreichischer Kollege Sebastian Kurz auf EU-Gipfeln regelmäßig auf die Seite scharfer Migrationsgegner wie des ungarischen Premiers Viktor Orbán. Und die Enthüllungen österreichischer Medien um gekaufte Umfragen durch Kanzler Kurz – die am Ende zu dessen Rücktritt führten – haben in Berlin für heftiges Kopfschütteln gesorgt.
Sandra Lumetsberger, österreichische Journalistin und seit 2017 Berlin-Korrespondentin der Zeitung "Der Kurier", fasst das Verhältnis gegenüber watson so zusammen: "Österreich und Deutschland sind eng kooperierende Nachbarn mit gemeinsamer Sprache und Kultur, die doch vieles trennt."
Deutschland stehe mit dem Regierungswechsel vor einer "Zeitenwende", meint Lumetsberger. Trotz der enormen Korruptionsprobleme in der österreichischen Politik könne die neue deutsche Bundesregierung und Österreich aber voneinander lernen – beim Klimaschutz.
Lumetsberger drückt es so aus:
Bei der Migration, glaubt Lumetsberger, gebe es weiter viel Stoff für Konflikte zwischen Berlin und Wien. Sie erklärt gegenüber watson:
Die Zahl der Konflikte in den deutsch-russischen Beziehungen ist kaum überschaubar. Berlin macht Moskau etwa für einen Mord in der Nähe des Berliner Regierungsviertels, einen Cyberangriff auf den Bundestag und für Aggressionen gegen die Ukraine verantwortlich. Sanktionen sind in Kraft. Eine Verbesserung der Lage unter einem Kanzler Scholz erwartet kaum jemand in Russland – eher noch mehr deutsche Kritik, sollte es einen Außenminister oder eine Außenministerin der Grünen geben.
Mit Sorge betrachtet Moskau etwa den Widerstand der Grünen gegen die Ostseepipeline Nord Stream 2. Russland setzt unabhängig von den "politischen Meinungsverschiedenheiten", wie es im Kreml heißt, vor allem auf Zusammenarbeit in anderen Feldern mit gemeinsamen Interessen. "Deutschland ist ein großer Handels-, Wirtschafts- und Investitionspartner Russlands, deshalb hat Moskau ein Interesse daran, dass die Beziehungen erhalten bleiben und sich weiter entwickeln", sagte Putins Sprecher Dmitri Peskow unlängst.
(mit Material von dpa)