Wenn es in Frankreich eskaliert, dann richtig. Das zeigen die jüngsten Proteste in den Pariser Vororten wie in Nanterre. Bei sozialen Kürzungen, einem späteren Renteneintrittsalter oder Polizeigewalt hört der Spaß bei den Franzosen offensichtlich auf.
Die französische Polizei gibt einen fatalen Schuss auf einen 17-Jährigen ab und löst damit eine andauernde, gewaltsame Protestwelle aus. 2022 erschießt ein deutscher Beamter mit seiner Maschinenpistole einen 16-Jährigen in Dortmund. Die Reaktion ist eine andere.
Der Aufschrei in Deutschland verstummt schnell. Man ist empört, es folgen bloße Lippenbekenntnisse – obwohl die Staatsanwaltschaft später keine Notwehr- oder Nothilfelage seitens der Polizist:innen feststellt. Warum reagieren Deutsche im Vergleich zu ihren europäischen Nachbarn so harmlos?
"In Frankreich sind Proteste populärer unter den Menschen", erklärt Politologe Johannes Maria Becker im Gespräch mit watson. Er war langjähriger Geschäftsführer des Zentrums für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg. Becker kenne die Franzosen gut, denn er lebt und arbeitet viel in Frankreich.
Laut ihm neigen die Deutschen eher dazu, nach individuellen Fehlern zu suchen. Als Beispiel zieht er den Fall des erschossenen 16-Jährigen in Dortmund heran. Die Leute reagieren dem Konfliktforscher nach eher mit Aussagen wie: "Ist er doch selber schuld. Er muss sich nicht mit der Polizei anlegen."
Becker nennt ein weiteres Beispiel, und zwar das Thema "hohe Jugendarbeitslosigkeit". "In Deutschland sagt man sich dann oft, hätte ich lieber Jura statt Literatur studiert. Die Menschen suchen den Fehler bei sich, dass sie keinen Job finden", erklärt Becker. In Frankreich hingegen stehe eher die Frage im Raum: Warum unternimmt der Staat nichts gegen die Erwerbslosigkeit unter den jungen Menschen?
Frust und Wut entladen sich rasch auf den Straßen: Autos, Banken, Geschäfte brennen – wie man es jetzt wieder sieht. Laut Becker herrscht in Frankreich eine Art "Widerstandskultur", sprich, man sei stolz auf die Revolutionen in der französischen Geschichte. "Kennen wir in Deutschland einen Gedenktag für irgendeine Revolution?", fragt Becker und zählt im Gegenzug fünf französische Feiertage auf.
Die Proteste seien in Frankreich völlig anders als in Deutschland. "In weiten Teilen der französischen Bevölkerung sind soziale Bewegungen populär", führt Becker aus. Als Beispiel nennt er etwa die Proteste gegen die Sozialreformen der Macron-Regierung. Er betont, dass sich dieser Bewegung mehrere Generationen angeschlossen haben.
In Frankreich seien solche sozialen Bewegungen eruptiver, also schlagartiger. Und das hat laut Becker etwa mit dem Vorgehen der französischen Polizei zu tun.
Laut ihm ist die Polizei in Frankreich brutal. "Man müsse sich nur die Bilder ansehen, die in den vergangenen Tagen im Fernsehen liefen", meint Becker. Sie würden etwa auf Demonstrierende einschlagen, die bereits am Boden liegen. "Mit einer Brutalität, die wir aus Deutschland so nicht gewohnt sind", führt er aus.
Dabei erinnert der Experte auch an die Bilder von der "Gelbwestenbewegung". "Zahlreiche Menschen verloren Körpergliedmaßen aufgrund französischer Gummigeschosse der Polizei", sagt er. Für ihn ist die Brutalität der französischen Sicherheitskräfte unvergleichbar mit der deutschen Polizei.
"Deeskalation ist in Frankreich bei den Sicherheitskräften eher ein Fremdwort", meint der Konfliktforscher. Vor wenigen Tagen habe er sich mit Studierenden über die aktuelle Lage in Frankreich ausgetauscht. Auf die Frage, ob ihnen eine ähnliche Situation in Deutschland in den Sinn komme, sei folgende Antwort gefallen: Stuttgart 21 und der Mann, der aus den Augenhöhlen blutete, weil ihn bei der Demonstration ein Wasserwerfer ins Gesicht traf.
"Das war eine grausame Geschichte. Aber genau das ist Alltag in Frankreich", sagt Becker. In Deutschland sei das noch immer ein Einzelfall – etwas Nichtalltägliches –, weil die deutsche Polizei in aller Regel versuche, deeskalierend in Konflikte zu gehen. "Das heißt nicht, dass es auch bei uns nicht ab und zu Übergriffe gibt. Überhaupt keine Frage", räumt er ein. Aber die Quantität sei eine vollkommen andere.
Aber auch ein weiterer Faktor spiele eine Rolle, warum die Protestkultur in Frankreich gerade jetzt unter den jungen Menschen so ausgeprägt ist.
Becker zufolge hat Frankreich andere und auch gravierendere Probleme als Deutschland. Vor allem die Arbeitslosigkeit unter der französischen Jugend sei höher und damit eine riesige Herausforderung. Dazu kommt die Wohnsituation in den Vororten, in den sogenannten Banlieues von Paris, Marseille oder Lyon. "Wie die Menschen dort teils leben, ist wohl für uns zuweilen schwer vorstellbar", sagt Becker.
In einem Wohnblock leben laut ihm bis zu 5000 Menschen. Dort sollen sich junge Menschen entfalten und wohlfühlen, haben dafür aber zu wenig Perspektiven aufgrund der hohen Jugendarbeitslosigkeit. Denn in Frankreich gibt es Becker zufolge auch kein duales Ausbildungssystem wie in Deutschland.
Sprich, wer etwa mit 16 Jahren die Schule verlässt, kann in einen Betrieb einsteigen und geht parallel in die Berufsschule. Dieses System gebe es in Frankreich nicht oder nur in geringen Ansätzen. "Das heißt, die Jugendlichen, wenn sie nicht in einem Betrieb integriert sind, stehen auf der Straße", erklärt der Experte.
Die jungen Menschen haben demnach keine Bindung an irgendetwas, was sie über Jahre hinweg als ein Schulsystem lenkt und leitet. Doch laut Becker kommt noch ein weiterer Faktor hinzu: Rassismus.
Die geschilderte Situation betreffe in erster Linie Familien, die aus den ehemaligen französischen Kolonien stammen, wie etwa Algerien. Laut Becker sahen sich Migrant:innen in den 60er Jahren einem verborgenen, aber auch teils offenen Rassismus ausgesetzt. "Das sind zum einen die Probleme, mit denen heutzutage auch noch die Jugend konfrontiert wird", führt er aus, also junge Menschen mit Migrationshintergrund.
Die Wurzeln des von einem Polizisten erschossenen Jugendlichen Nahel M. in Nanterre liegen ebenfalls in Algerien. All die genannten Punkte führten wohl dazu, dass es zu diesen gewaltsamen, langanhaltenden Protesten im Land kam.
Trotzdem wird die Bewegung wohl verebben, prognostiziert der Konfliktforscher. "Sie hätte nur dann eine Chance, wenn sie auf die Verwaltung und Betriebe übergreift", sagt Becker. Das wird laut ihm aber nicht passieren, denn in wenigen Tagen beginnen die Sommerferien in Frankreich und viele Stellen werden nicht besetzt sein.
Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron kündigte zwar an, den Vorfall zu untersuchen, aber Becker hat wenig Hoffnung, dass sich etwas Grundlegendes ändern wird. Laut ihm muss sich in der Pariser Regierung die Erkenntnis durchsetzen, dass die Finanzierung von Bildung und Ausbildung volkswirtschaftlich vernünftiger und zukunftsträchtiger ist als die Finanzierung der Erwerbslosigkeit.