Flammen erhellen die Nächte Frankreichs. Autos, Gebäude und Geschäfte brennen in den Städten. Feuerwerkskörper explodieren neben und über Polizeibeamten. Im lodernden Licht wirken sie mit ihrer Uniform wie Riesen, die seit Tagen gegen die Unruhestiftenden ankämpfen.
In den Nächten marschieren junge Menschen durch die Straßen. Sie vermummen ihre Gesichter, ziehen die Kapuzen über ihre Köpfe, doch verstecken wollen sie sich wohl nicht mehr. Ihre Rufe sind laut, der Rauch ihrer entbrannten Wut steigt empor. Die Proteste sind nicht zu übersehen – weltweit.
Auslöser der Unruhen ist der Tod des Teenagers Nahel M. Der 17-Jährige wurde vergangene Woche von einem Polizisten bei einer Verkehrskontrolle in der Pariser Vorstadt Nanterre erschossen. Der mutmaßliche Schütze befindet sich in Untersuchungshaft, die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Totschlags gegen ihn. Doch das dämmt die Wut der Menschen wohl nicht ein.
Seither kam es jede Nacht zu Protesten im Land – teils so brutal, dass die Großmutter des Opfers zur Ruhe und zu Vertrauen in die Justiz aufrief.
Doch das Misstrauen der jungen Menschen aus den Pariser Vorstädten gegenüber der Polizei ist offensichtlich groß. Der Regierung falle es schwer, langfristige Lösung zu finden, meint der in Paris lebende Martin Goette auf watson-Anfrage.
Laut Goette hat die französische Regierung die Situation zwar taktisch im Griff. Sprich, die Proteste werden seiner Meinung nach sehr wahrscheinlich wieder abflachen in den kommenden Tagen – aber ein Ende sei nicht in Sicht. "Solche Situationen werden sich auch in Zukunft wiederholen, bis sich die Dinge strukturell verbessern", führt er aus.
Der gebürtige Deutsche lebt seit zwei Jahren mit seiner französischen Freundin in Paris. Laut ihm sind die Proteste "omnipräsent" in den französischen Medien. Auch seien am Wochenende viele Veranstaltungen abgesagt worden, etwa ein großes Konzert im Stade de France zu dem viele seiner Freunde gehen wollten.
Aber im Zentrum von Paris bekomme er selbst nur sehr wenig von den Unruhen mit. Er sagt dazu:
Dabei gehören Proteste in Frankreich beinahe zur Tagesordnung. Unter Macrons Regierung entlädt sich gerade die dritte vehemente Bewegung in wenigen Jahren.
Erst die Gelbwestenbewegung aufgrund der angekündigten Kraftstoffsteuer, dann die gewaltsamen Unruhen aufgrund der Rentenreform, nun brennen die Vororte aufgrund eines fatalen Schusses der Polizei auf einen Teenager.
Bilder der Zerstörungen wiederholen sich: eingeschlagene Fensterscheiben, geplünderte Geschäfte und brennende Autos. Doch Goette zufolge ist die aktuelle Situation schon ziemlich extrem. "Vor allem auch, weil es im ganzen Land, auch in kleineren Städten, zu Unruhen kommt", sagt der 43-Jährige.
Und wie reagieren die Bürger:innen? Sind sie schockiert oder unterstützen sie die Demonstrierenden?
"Ich habe das Gefühl, dass großes Verständnis für die allgemeine Situation herrscht", meint Goette. Sprich, es werde durchaus anerkannt, dass es seit langer Zeit strukturelle Probleme gibt, was die Integration von Menschen aus den ärmeren Vierteln oder mit Migrationshintergrund angeht. Er führt aus:
Auch bekannt unter "Racial Profiling". Sprich, das physische Erscheinungsbild einer Person – etwa Hautfarbe oder Gesichtszüge – wird für polizeiliche Maßnahmen wie Personenkontrollen herangezogen.
In Frankreich sei die Situation – verglichen mit anderen westeuropäischen Ländern – besonders extrem, sagt Goette. Von daher gebe es Verständnis, dass die Menschen sich Gehör verschaffen wollen, auf die Straße gehen, um für Gerechtigkeit zu kämpfen. Doch auch die französischen Bürger:innen haben laut ihm eine Grenze für Proteste.
Schwere Plünderungen, Zerstörungen von Staatseigentum, Verbrennen von Autos – da hört der Spaß auf, meint der in Paris lebende Deutsche. Solch eine Massivität der Ausschreitungen werde vor Ort kritisch betrachtet. Vor allem gezielte Angriffe auf Personen verurteile die französische Gesellschaft.
"Unter den Demonstrierenden sind auch sehr viele Minderjährige, da passieren schon Dinge, die wenig Sinn machen, etwa das Abfackeln von Bibliotheken, die ihnen ja selbst zugutekommen", sagt Goette.
Trotz der gewaltsamen Wucht der Proteste halte er das Wort "Bürgerkrieg" – vor dem einige Medien mahnen – für fehl am Platz. "Natürlich gibt es schwere Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Polizei, aber die gibt es in Frankreich sehr regelmäßig", meint er.
Der Aufwand, den Regierung und Polizei betrieben, um die Lage in den Griff zu bekommen, ist laut ihm mit etwa 45.000 Sicherheitskräften "riesig". "Die französische Polizei ist auf solche Situationen gut vorbereitet, aber geht wohl auch sehr streng dagegen vor, was die Situation nicht unbedingt entspannt", führt er aus.
Bei den Unruhen in Frankreich sind in der Nacht zum Montag deutlich weniger Menschen festgenommen worden als in den Nächten zuvor. Insgesamt habe es 157 Festnahmen gegeben, teilt das französische Innenministerium mit. Demnach wurden drei Ordnungskräfte verletzt. Bei der Feuerwehr soll es einen Todesfall geben.
Laut Innenminister Gérald Darmanin ist ein junger Feuerwehrmann ums Leben gekommen – "trotz der schnellen Hilfe seiner Mannschaftskameraden", schreibt er auf Twitter.
Der 24-Jährige sei beim Löschen brennender Autos verstorben. Ein weiterer junger Mann um die 20 Jahre ist Medienberichten zufolge im Zuge der Proteste tödlich vom Dach eines Einkaufszentrums gestürzt.
Der französische Präsident Emmanuel Macron wolle mit einer "sorgfältigen und längerfristigen Arbeit beginnen, um die Gründe, die zu diesen Protesten geführt haben, gründlich zu verstehen", erklärt das Präsidialamt. Die Regierung wolle erst die Ereignisse analysieren und dann Schlussfolgerungen ziehen.
(Mit Material der AFP)