Hunderte Menschen versammeln sich vor einer Absperrung, sie schieben sich gegenseitig hin und her. Väter und Mütter halten ihre Kinder in die Luft. Männer und Frauen flehen Soldat:innen an, sie mitzunehmen – raus aus einem Land, dem die Machtübernahme einer Terrorgruppe bevorsteht.
Es sind diese dramatischen Bilder von verzweifelten Afghan:innen am Flughafen von Kabul, die sich in den Köpfen eingebrannt haben. Am 15. August 2021 übernahmen die Taliban erneut die Macht – wenige Wochen nach dem Abzug der internationalen Nato-Truppen.
Viele Menschen wollten damals vor den Taliban fliehen – die meisten mussten bleiben.
Seit zwei Jahren herrscht die Terrorgruppe in Afghanistan. Auch heute sei ihre Ideologie in Kern noch dieselbe, sagt Ellinor Zeino im Gespräch mit watson. Sie ist die frühere Büroleiterin in Afghanistan und jetzige Leiterin des Regionalprogramms Südwestasien der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung.
Zeino besuchte Kabul vor kurzem und tauschte sich mit den Machthabern vor Ort aus. Sie habe durchaus Veränderung innerhalb der Bewegung wahrgenommen: "Die Taliban sind in einigen Sachen nach außen 'softer' geworden", meint sie. Sie greifen ihr zufolge nicht mehr so stark in den Alltag der Menschen ein.
Laut Zeino verfolgen die Taliban nicht mehr ganz so rigide die Kleidungsvorschriften bei Frauen oder den Bartzwang für Männer wie im Emirat der 1990er Jahre. Auch seien sie offen für moderne Technologien. Zu Beginn der Bewegung standen die Taliban diesen noch kritisch gegenüber.
Zwei Jahre nach der Machtübernahme steht die Taliban-Regierung aber vor enormen Herausforderungen.
Afghanistan erleidet momentan eine große humanitäre Krise. Familien wissen nicht, wie sie ihre Kinder ausreichend ernähren können. "Die Taliban müssen das Land am Laufen halten, ohne die direkte, finanzielle Unterstützung aus dem Ausland", sagt Zeino.
Dazu ist die Taliban-Regierung von keinem Land diplomatisch anerkannt. Der offizielle internationale Banken- und Zahlungsverkehr ist gesperrt – das lähmt jede wirtschaftliche Initiative.
Grund: Die Taliban gelten als eine terroristische Vereinigung. Mitglieder dieser radikalislamistischen, militärischen Bewegung bezeichnen sich selbst als "Gotteskrieger" und wollen in Afghanistan laut eigener Aussage eine "wahre islamische Herrschaft" im Rahmen des Scharia-Rechts aufbauen.
Ein Ziel, das nicht jede:r im Land mit den Taliban teilt – vor allem diejenige, die im Weltbild der Terrorgruppe keinen Platz haben – wie etwa Vertreterinnen der Zivilgesellschaft oder LGBTQI+-Personen. Viele leben heute in Angst und Schrecken unter der Taliban-Herrschaft.
Die vormals hohen Zahlungen aus dem Ausland an die ehemalige Regierung müssen die Taliban nun durch eigene ersetzen, zum Beispiel durch Steuer- und Zolleinnahmen.
Laut Zeino sind die Taliban hier viel effektiver als die vorhergehende Regierung, gehen gezielter gegen Korruption vor, auch weil sie auf öffentliche Einnahmen angewiesen sind. Diese Meinung vertritt auch Analyst Thomas Ruttig vom Thinktank "Afghanistan Analysts Network".
Gegenüber der "Tagesschau" sagte er: "Den Taliban ist es gelungen, Korruption relativ stark einzudämmen." Damit haben sich auch die Staatseinnahmen wieder erhöht.
Zeino führt dazu aus:
Die Taliban müssen schließlich selbst sehen, wie sie überleben, führt Zeino aus. Das Drogengeschäft ist hingegen weiterhin eine Einnahmequelle.
"Einerseits gehen die Taliban gegen den Drogenanbau vor, um die internationale Akzeptanz zu erhalten", meint die Expertin. Gleichzeitig seien aber die Verstrickungen in dem illegalen Drogenanbau in vielen Teilen der Bewegung und Gesellschaft so fundamental verwoben, dass sich das nur schwer trennen lasse.
Neben den finanziellen und wirtschaftlichen Herausforderungen sehen sich die Taliban laut Zeino mit einem weiteren Problem konfrontiert: der internen Spaltung.
Die Taliban-Regierung ist grob in ein Lager der Pragmatiker und das der Hardliner gespalten. Letzteres besteht vor allem aus dem Emir und seinem engen Kreis in der südafghanischen Stadt Kandahar, teils sitzen die Hardliner auch in Kabul. Zwischen ihnen tobe ein Richtungsstreit vor allem über die Bildungs- und Berufsfreiheit für Frauen.
"Gerade beim Thema Bildung gehen die Meinungen innerhalb der Bewegung deutlich auseinander. Der Streit werde mittlerweile auch offen angesprochen", sagt Zeino. Selbst der Emir, also das Staatsoberhaupt, werde mit Vorsicht offen kritisiert.
Aber man gehe nicht so weit, dass die Einheit der Bewegung gefährdet wird. "Dann sinkt das Boot, in dem alle sitzen", sagt die Expertin. Laut ihr bleibt die Bewegung bisher sehr hierarchisch-autoritär und die Dekrete, also Beschlüsse, aus Kandahar werden befolgt. Und diese betreffen vor allem die Frauen im Land.
Seit der Machtübernahme der Taliban sind Frauen und Mädchen weitgehend aus dem öffentlichen Leben verschwunden. "Allerdings nicht komplett", betont Zeino. In Kabul bewegen sie sich noch immer auf den Straßen, arbeiten etwa in Banken oder den Familienbereichen der Restaurants. Dennoch ist der Einschnitt in ihre Rechte durch die Taliban gravierend.
Mädchen dürfen nur bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen, nicht mehr an Universitäten studieren oder etwa als Lehrinnen arbeiten. "Viele Frauen wurden ins Homeoffice verbannt oder entlassen", sagt Zeino.
Kürzlich wurden auch die Schönheitssalons im Land verboten. Zeino zufolge galten diese als letzter Rückzugsort für Frauen, aber auch als Einnahmequelle, weil sie von Afghaninnen geführt wurden. Allgemein herrsche unter den Menschen in Kabul eine lethargische, bedrückende Stimmung. "Die belastende Perspektivlosigkeit im Land bewegt die Menschen am meisten", sagt Zeino.
Afghan:innen freuen sich, wenn noch Ausländer nach Afghanistan kommen, suchen den Kontakt, auch um sich über ihre missliche Lage auszutauschen. "Es ist wichtig mit ihnen vor Ort in Kontakt zu bleiben, sie nicht allein zu lassen, auch wenn man aktuell nicht viel tun kann", sagt die Expertin.
Wie sollte der Westen demnach in Zukunft mit der Taliban-Regierung umgehen?
Zeino empfiehlt eine Mischung aus hartem, aber gesichtswahrendem Verhandeln. Laut ihr seien zu harsche oder laute Forderungen kontraproduktiv. Viele Menschen vor Ort sind auch besorgt, dass es mehr Einschnitte gibt, je mehr man Frauen- und Minderheitsrechte zur ausländischen Agenda macht. Das ist ein Dilemma.
Sprich: Je lauter die internationale Gemeinschaft etwa Frauenrechte in Afghanistan einfordert, desto mehr werde man auf Widerstand bei der Taliban-Regierung treffen. Man müsse Gespräche Schritt für Schritt suchen, meint Zeino. Am besten in einem vertraulichen Rahmen, hinter geschlossenen Türen: "In solch einer Atmosphäre können beide Seiten die roten Linien austesten, wie weit sie gehen können, ohne ihr Gesicht zu verlieren."