"Ja, sie ist beendet. Der Schlusspunkt gesetzt", verkündete der russische Präsident Wladimir Putin Ende Oktober. Die Mobilmachung für den Krieg in der Ukraine sei abgeschlossen.
Nach Angaben des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu wurden insgesamt 300.000 russische Männer mobilisiert. Etwa 87.000 von ihnen seien inzwischen an die Front geschickt worden. Aber über eine Zahl schweigt der Kreml wohl lieber – die Anzahl von Russen, die aus dem Land geflüchtet sind.
Aus Angst, für die Armee eingezogen zu werden, haben Hunderttausende Russen ihr Land etwa in Richtung Georgien, die Türkei oder Zentralasien verlassen. Darunter auch Roman Porekhov.
Im Oktober berichtete watson über seine Flucht nach Zentralasien. Nun kehrt er zurück nach Moskau. Im Gespräch mit watson erzählt er, warum er zurückgegangen ist und wie aktuell die Stimmung in der russischen Hauptstadt ist.
"Es gab solide Beweise, dass der Kreml seine Hunde zurückgerufen hatte", sagt Porekhov. Mit Hunden meint er russische Polizisten:innen, die Männer auf den Straßen für den Krieg in der Ukraine "abgefangen" haben. Während andere Russen weiterhin im Ausland die Lage abwarten, sah sich Porekhov gezwungen, nach Moskau zurückzukehren.
Einer der Hauptgründe dafür war, dass seine Familie einen großen Umzug in eine neu renovierte Wohnung geplant hatte. Auch Porekhovs Führerschein sei abgelaufen und diesen könne er vom Ausland aus nicht neu beantragen. "Die aktive Phase der Mobilmachung war für beendet erklärt, daher nutzte ich meine Chance und kehrte zurück", sagt der Russe.
Aber konnte er so einfach wieder einreisen?
"Ich hatte keine Angst bei meiner Einreise", erklärt der russische Geflüchtete. Seine Freunde hätten ihm erzählt, dass sie ohne Schwierigkeiten ins Land ein- und ausreisen konnten. Die Reise von Zentralasien zurück nach Moskau sei reibungslos verlaufen. Auch nach der Ankunft habe es keine Probleme gegeben.
"So weit, so gut", sagt Porekhov. Die Familie sei umgezogen, er habe seine neue Fahrerlaubnis beantragt und keinerlei Probleme mit der Polizei oder sonst jemandem gehabt. Dennoch fühle er sich nicht sicher im Land. Vor allem habe er Angst vor einer "zweiten Welle" der Mobilmachung. Gerüchte werden ihm zufolge immer lauter, dass eine weitere Mobilmachung komme – und zwar schon im Januar.
"Einige erzählen, es soll sogar schon Mitte Dezember losgehen, aber das bezweifle ich", sagt Porekhov. Der Kreml werde den Menschen noch erlauben, das Neujahrsfest zu feiern. Doch dann soll es weiter gehen mit der Einberufung russischer Männer. Das prognostizierte auch das "American Institute for the Study of War" (ISW).
Viele der bereits eingezogenen Reservisten seien ohne jegliche Vorbereitung an die Front geschickt worden. Die Verluste seien demnach immens hoch. Laut des ISW bereiten sich russische Beamte auf eine weitere Mobilmachung vor. Dazu listet das Institut mehrere Hinweise auf.
Unter anderem sorgt ein Dokument auf russischen Telegramkanälen für hitzige Diskussionen. Dabei handelt es sich um ein Vorladungsentwurf, das ein Bürger von St. Petersburg erhalten haben soll. Darin heißt es, er müsse im Januar 2023 zur Mobilisierung erscheinen, obwohl Putin das formelle Ende der Teilmobilmachung am 31. Oktober verkündet hatte.
Auch rechnen laut ISW nationalistische Militärblogger:innen mit der nächsten Mobilmachung für Dezember oder Januar. Eine russische Zeitung soll bemerkt haben, dass das Militärgericht der Garnison Odinzowo im Oblast Moskau versehentlich bestätigt habe, dass die Mobilisierung trotz ihres formellen Endes fortgesetzt werde. Zudem habe der Kreml erklärt, dass Putin keine Notwendigkeit sehe, ein Dekret zu unterzeichnen, das die Phase der Mobilmachung formell beendet.
Porekhov nimmt die Gerüchte und Hinweise sehr ernst.
Aus Gerüchten kann schnell Realität werden, meint Porekhov. Deshalb wolle er die Entwicklung aus sicherer Distanz beobachten. "Vor Weihnachten fliegen wir nach Montenegro und bleiben dort für mindestens einen Monat", sagt er. In der Küstenstadt Budva gebe es eine große russische Gemeinde mit Schulen und Kindergärten. Einige seiner Freunde seien schon dort. Darunter auch die geflüchteten Russen, mit denen er in Usbekistan zusammengewohnt hatte.
Voraussetzung sei aber, dass er überhaupt Ende Dezember das Land verlassen dürfe. Vieles könne bis dahin noch passieren. Er meint:
Als Dolmetscher spricht Porekhov fließend Spanisch, zudem weise er ein beträchtliches unabhängiges Einkommen auf. Seine Freunde, die schon in Budva sind, wollen ein kanadisches Start-up-Visum beantragen. "Irgendwie kommen wir durch", sagt er. Glücklich seien er und seine Frau aber nicht, dass sie ihre Heimat verlassen müssen.
Die aktuelle Stimmung in Moskau ist laut Porekhov mehr oder weniger "business as usual". "Es ist eine riesige Stadt mit über zehn Millionen Einwohnern und es ist viel los wie immer", beschreibt er die Lage vor Ort. Der Autoverkehr sei wieder stark. Viele Leute besuchen Bars und Restaurants. Und doch sei nichts mehr wie zuvor, seit dem Krieg in der Ukraine.
"Weder ich noch meine Frau wollen auswandern, aber wenn es so weitergeht, müssen wir das vielleicht", sagt Porekhov.
Unter seinen Freunden in Russland gebe es ein breites Spektrum an Meinungen:
"Einige bleiben wegen ihres Jobs oder weil sie ältere Familienmitglieder pflegen müssen", erklärt Porekhov. Aber es gibt auch jene Russen, die sagen, "wenn ich eingezogen werde, gehe ich in den Krieg". Sie machen die Nato für den Krieg in der Ukraine verantwortlich und sagen, es sei Männersache, das Land zu verteidigen. Mit diesen Leuten könne er nicht sachlich argumentieren, "als kämen sie von einem anderen Planeten".