Wieder einmal nimmt die Bürgergeld-Debatte Fahrt auf. Bereits vor der Einführung nutzte die Union Armutsbetroffene und Erwerbslose, um Stimmung zu machen. Die Erzählung: Die Sozialleistungen sind zu hoch und die Leute zu faul. Am Ende konnte die Regierung die Oppositionsführerin überzeugen – mit einigen Anpassungen.
So musste beispielsweise die Vertrauenszeit, die Sanktionen im ersten Jahr vermeiden sollte, gestrichen werden. Auch das Schonvermögen musste von 24 Monate auf zwölf Monate reduziert werden. Dennoch schaffte es Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) letztlich, die Reform umzusetzen und seine Partei damit auch von der Altlast der Harzt-IV-Reformen zu heilen.
Seit Januar beziehen Erwerbslose nun Bürgergeld statt Hartz. Und zum kommenden Jahr sollen die Beträge noch einmal steigen. Grund dafür: die gestiegenen Lebenshaltungskosten und die deutsche Verfassung. Eine Verordnung zur Fortschreibung des Regelbedarfs, die im Oktober vom Bundesrat angenommen wurde, sieht vor, dass die Regelsätze in Zukunft schneller auf Preisschwankungen reagieren können.
Auf der Homepage des Ministeriums für Arbeit und Soziales heißt es:
Die starke Erhöhung um zwölf Prozent liege an den gestiegenen Lebenshaltungskosten im Jahr 2023. Selbst nach der Erhöhung wird der Betrag des Bürgergeldes nicht in der Höhe liegen, die es laut Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes für ein Leben in Würde braucht.
Gerade mit Blick auf das massive Haushaltsloch, das das Urteil aus Karlsruhe in die Kassen der Regierung gerissen hat, fordert nun unter anderem die Union, am Bürgergeld zu sparen. Schon vorher hatte die Union Stimmung gemacht: Die Erhöhung des Bürgergeldes würde dafür sorgen, dass sich Arbeit nicht mehr lohne.
Was ist dran an der Kritik? Und welche anderen Lösungen gibt es? Darüber hat watson mit dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, gesprochen.
Laut einer Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Forsa für den "Stern" durchgeführt hat, fürchten 64 Prozent der Befragten, dass sich Menschen wegen der Erhöhung des Bürgergeldes zum 1. Januar gegen eine reguläre Beschäftigung entscheiden könnten. "Mit dem Bürgergeld wird Nichtarbeiten deutlich attraktiver", sagt auch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. Der Wirtschaftsrat der CDU fordert sogar unverhohlen, "Sozialgeschenke" zurückzunehmen.
Bei der namentlichen Abstimmung zum Bürgergeld hatten sowohl CDU-Chef Merz als auch Generalsekretär Linnemann für das Gesetz gestimmt.
Marcel Fratzscher sieht das anders. Zu behaupten, dass das Bürgergeld die Arbeitsanreize mindere, sei populistisch und wissenschaftlich überhaupt nicht bewiesen. Er sagt im Gespräch mit watson:
Hinzu komme, dass der Abstand zwischen Mindestlohn und Bürgergeld – oder früher Hartz-IV – seit Einführung des Mindestlohns 2005 nicht kleiner, sondern größer geworden sei. Was außerdem klar sei: Bürgergeldbeziehende haben auch nach der Erhöhung nicht mehr Kaufkraft, schließlich frisst die Inflation die Bürgergelderhöhung auf.
Auch Sozialverbände warnen eindringlich davor, mit dem geplatzten Haushalt nun an den Sozialausgaben sparen zu wollen. "Wer glaubt, politisch punkten zu können, indem er Sozialpolitik gegen Zukunftsinvestitionen ausspielt, der wird in einem Land voller Klimaleugnern und Marktradikalen aufwachen", sagte etwa die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Um erstmal weiter handlungsfähig zu sein, will die Regierung nun die Schuldenbremse für 2023 rückwirkend aussetzen. Was das Karlsruher Urteil allerdings für den Haushalt 2024 bedeutet, dazu wollte Finanzminister Christian Lindner (FDP) noch nichts sagen. Arbeitsminister Heil erteilte dem Vorstoß, am Bürgergeld zu sparen, bereits eine Absage.
Fratzscher teilt die Forderung, dass sich Arbeit lohnen muss. Der DIW-Chef kommt in seiner Analyse allerdings zu einem anderen Schluss als die Kritiker:innen des Bürgergelds. Zwei Punkte seien hier zentral: etwa der Mindestlohn, dessen Erhöhung um 41 Cent viel zu gering sei. Und: Mehrarbeit müsse sich mehr lohnen.
Das heißt, dass Menschen, die beispielsweise im Minijob-Bereich bis zu 520 Euro erwirtschaften dürfen, wenig Anreize haben, mehr zu arbeiten. Denn dann müssten sie Sozialabgaben zahlen und von der erbrachten Arbeit bliebe netto weniger übrig. Auch an die Einkommensgrenzen für Transferleistungen – also etwa Bafög oder Bürgergeld – müsste der Staat ran. Denn höherer Lohn werde auch auf Leistungen wie etwa das Wohngeld angerechnet – selbst wenn letztlich nicht viel mehr bleibt.
Fratzscher stellt klar:
Vom Nettogehalt sind Steuern und Sozialabgaben bereits abgegangen, deshalb ist es geringer als das Bruttogehalt.
Aus Sicht von Fratzscher würde es helfen, die Sozialabgaben für Geringverdienende zu senken, damit ihnen mehr von ihrem Lohn bleibt. Und auch der Mindestlohn müsste steigen. Das bedeutet laut des Wirtschaftsexperten nicht, dass alle Unternehmen ihre Preise für Produkte und Dienstleistungen anheben müssten. Vielmehr könnte eine neue Regelung dazu führen, dass mehr Wettbewerb entsteht und so die Dumpinglohn-Spirale ausgetrocknet wird.
Unternehmen seien dann viel mehr gefragt, Arbeitsabläufe produktiver zu gestalten. Etwa, indem Mitarbeitende durch Maschinen und flexiblere Arbeitsgestaltung unterstützt werden. Am Ende wären höhere Löhne laut Fratzscher nicht nur gut für die Angestellten, sondern für die ganze Gesellschaft. Er sagt: "Bekommen Beschäftigte höhere Löhne, brauchen sie keine Unterstützung vom Staat und zahlen mehr Steuern. Insofern haben Lohnerhöhungen, solange sie nicht exzessiv sind, Vorteile für die Gesellschaft."