Javier Milei trat mit der Kettensäge und einer entsprechenden Botschaft an die Öffentlichkeit. Genau ein Jahr nach seinem Amtsantritt kann man sagen: Milei hat sie auch wirklich benutzt. Seither nahm eines der wohl größten wirtschaftlichen Experimente des 21. Jahrhunderts seinen Lauf.
Javier Mileis Pläne erinnerten so manchen an die als "Schocktherapie" bezeichneten Reformen in den 1990er Jahren in Osteuropa: Ehemalige Sowjetstaaten sollten anhand eines neoliberalen Drehbuchs innerhalb kürzester Zeit von kommunistischen in durch und durch kapitalistische Staaten verwandelt werden. Heute ist man sich weitgehend einig: Eine solche Schocktherapie sollte nicht mehr als Blaupause für weitere Reformvorhaben dienen.
Trotzdem war sie genau das für Javier Milei, der Argentinien – ebenfalls geprägt von gescheiterten Wirtschaftsreformen – so reformieren will. Mit Erfolg? Ein Blick auf sieben wirtschaftliche und politische Größen – und wie sie sich seit Beginn der Amtszeit Mileis entwickelt haben.
Im Rahmen seiner als extrem geltenden Reform hielt Javier Milei seine Wahlversprechen und setzte die Kettensäge an, wo er konnte. Dazu muss man wissen: Der selbsternannte "Anarcho-Kapitalist" verachtet wohl nur wenig mehr als den Staat, den er unter anderem als Mafia bezeichnet.
Innerhalb seines ersten Jahres an der Macht machte Milei mehr als die Hälfte aller Bundesämter dicht (10 von 18). Mehrere zehntausend staatliche Angestellte verloren damit ihren Job. Er privatisierte staatliche Unternehmen, strich Sozialleistungen und Subventionen, kürzte die Mittel für Bildung, Gesundheit und wissenschaftliche Forschung.
Insgesamt konnte er so die Staatsausgaben um etwa 30 Prozent kürzen – und das hat zunächst auf dem Papier große Auswirkungen. Kaum war Javier Milei im Amt, folgte der erste Monat mit Primärüberschuss, nahm der Haushalt also mehr Geld ein, als er ausgab (Zinszahlungen ausgenommen). Seither resultierte in jedem Monat ein Primärüberschuss – eine absolute Seltenheit in Argentinien.
Am meisten ins Gewicht gefallen sein dürften aber wohl die Renten: Der argentinische Präsident weigerte sich, diese zu verbessern oder auch nur geringfügig auf ein höheres Niveau zu heben.
Als Javier Milei an die Macht kam, kämpfte Argentinien mit einer historischen Hyperinflation. Im Dezember 2023 lag die jährliche Preissteigerung (Preise eines Monats gegenüber dem Vorjahresmonat) bei über 200 Prozent, die monatliche Rate erreichte ein Maximum von 25,5 Prozent. Anders ausgedrückt: Dasselbe Warenpaket kostete im Dezember über 25 Prozent mehr als noch im November.
Doch dann kam Milei. Und die monatliche Rate entwickelte sich fortan folgendermaßen:
Schon ab Dezember begann die monatliche Inflationsrate zu sinken. Und im Oktober 2024 lag sie sogar bei unter drei Prozent. Die jährliche Inflationsrate begann ihre Trendwende zwar erst im Mai 2024, seither sinkt auch sie kontinuierlich – da es sich um eine jährliche Rate handelt, die noch Monate aus dem vorherigen Jahr summiert, jedoch sehr viel langsamer.
So positiv das auch aussieht, es darf nicht vergessen gehen: Gemäß jährlicher und neuster Inflationsraten ist Argentinien noch immer das Land mit der weltweit stärksten Preissteigerung (193 %). Dies noch vor Ländern wie Syrien (120 %), Südsudan (107 %), Palästina (70 %) und Simbabwe (57,5 %).
Trotzdem: Die Trendwende kurz nach Mileis Amtsantritt erlaubte es der Zentralbank, seit Dezember den horrenden Leitzins – vor einem Jahr lag er bei 120 Prozent – gleich siebenmal zu senken. Zum Vergleich: Der Leitzins der Schweiz überstieg in dieser Zeit nie den Wert von 1,75 Prozent.
Keine Frage: Argentiniens wirtschaftliche Probleme waren riesig bei Mileis Amtsantritt, und sie sind es noch. Neben der horrenden Geldentwertung plagen das einst so reiche Land geringe Investitionen, ein riesiger Schuldenberg, ein Handelsbilanzdefizit, bescheidenes Wirtschaftswachstum und mangelhafte Steuereinnahmen. Die schwache Währung, der Argentinische Peso, ist auch eine Folge davon.
Die Menschen verlieren seit Jahren das Vertrauen in die argentinische Währung und flüchten stattdessen in den US-Dollar. Weil die vorherige Regierung den Wert des Pesos künstlich hochhielt und ihn nur zu einem bestimmten Wert in Dollar umwandeln ließ, blühte der Dollar-Schwarzmarkthandel.
Ein weiteres Kernstück der Wahlkampagne Mileis war die "Dollarisierung" Argentiniens: Da er den Peso verachtet, versprach er, die Währung abzuschaffen und sie durch den US-Dollar zu ersetzen.
Dieses Vorhaben hat er zwar (noch) nicht durchgesetzt, doch seine Reformprogramme setzten auch hier an: Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Abwertung des Pesos um rund 50 Prozent. Dadurch schrumpfte der Unterschied zwischen Schwarzmarkt und offiziellem Devisenmarkt. Der sogenannte "Blaue Dollar", der Dollar auf dem Schwarzmarkt, verlor ab Mitte Jahr zunehmend an Wert – ein Zeichen dafür, dass das Vertrauen in den Peso sich zumindest leicht erholt. Die Nachfrage nach Dollars ist zurückgegangen, diejenige nach Pesos wieder gestiegen.
Geholfen hat auch, dass es der Zentralbank gelungen ist, wieder mehr dringend benötigte Reserven an ausländischem Geld aufzubauen: Nach Angaben der Zentralbank sind die Reserven von 21 Milliarden US-Dollar bei Mileis Amtsantritt im vergangenen Dezember auf 30 Milliarden gestiegen.
Seit dem zweiten Quartal 2023 ist das Bruttoinlandsprodukt Argentiniens rückläufig, das Land befindet sich somit in einer deutlichen Rezession. Das hat sich bislang auch unter Mileis Regierung nicht geändert. Besonders hart war das erste Quartal dieses Jahres, als die Wirtschaftsleistung im Vergleich zum vorherigen Quartal um über 5 Prozent zurückging.
Insgesamt dürfte für 2024 ein Minus von etwa 3 Prozent resultieren. Allerdings: Es zeichnet sich auch hier eine Trendwende ab. Während die Wirtschaft im ersten Quartal noch über 5 Prozent schrumpfte, waren es im zweiten Quartal minus 1,7 Prozent – und im dritten noch minus 0,3 Prozent.
Je nachdem, wie also das letzte Quartal ausfällt, dürfte das ein weiteres wichtiges, positives Zeichen für eine Erholung der argentinischen Wirtschaft sein.
Für Javier Milei ist klar:
Während dieser Satz natürlich, typisch Milei, vor allem der puren Provokation dient, trifft er für Argentinien durchaus zu. Experten sind sich einig, dass die Struktur des Staates, wie sie während Jahrzehnten aufgebaut wurde, der Korruption zumindest nicht im Weg steht. Im Corruption Perceptions Index von Transparency International (2023) landet Argentinien auf dem 98. Rang (je höher der Rang, desto weniger Korruption). Mit anderen Worten: 97 Länder dieser Welt sind besser.
Milei trat denn auch mit einem weiteren Versprechen an: "La casta" ("die Kaste") zu eliminieren. Eine Verringerung der Bürokratie sowie der Anzahl Staatsangestellten soll dabei automatisch die Korruption bekämpfen.
Auch die konservativ-liberale "Financial Times" glaubt, dass Mileis Reformen auf dem "Mikro-Level statt dem Makro-Level" etwas bewirken können: Unter der Führung des Ökonomen Federico Sturzenegger, ehemaliger Zentralbankchef und "Architekt" von Mileis Schocktherapie, habe die Regierung damit begonnen, "jahrzehntealte Netze von Vorschriften, Vermittlern, Zwischenhändlern und Zöllen" abzubauen, die zuvor Innovation, Produktivität und Wettbewerb behindert hatten.
Inwiefern der staatliche Kahlschlag die Korruption wirklich trockenlegen kann, wird sich noch weisen müssen, zumal Milei noch mehrere weitere Reformen angekündigt hat. Zwischenzeitlich hat der "Anarcho-Kapitalist" in diesen Belangen allerdings selbst für einen Skandal gesorgt: Zum Entsetzen sogar einiger seiner Verbündeten nominierte er für den Obersten Gerichtshof Ariel Lijo, einen Bundesrichter mit äußerst fragwürdigem Ruf. Lijo wird nachgesagt, als Richter und aufgrund seiner Bekanntschaften mit zahlreichen Akteuren aus dem Staat und der Finanzbranche dutzende Korruptionsfälle bewusst verzögert zu haben. Zudem wurde vor einigen Jahren wegen Geldwäsche und unerlaubter Bereicherung ein Verfahren gegen ihn eröffnet.
All den vorsichtig optimistisch stimmenden Nachrichten über die sich erholenden wirtschaftlichen Größen stehen jedoch Schicksale von zehntausenden, wenn nicht hunderttausenden Menschen gegenüber. Und ihnen geht es alles andere als besser.
Denn die Kürzungen schmerzen. Am deutlichsten erkennbar ist dies an der steigenden Armutsrate. Gemäß einem Bericht der argentinischen Statistikbehörde vom September ist die Anzahl der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, von 42 Prozent Ende 2023 auf fast 53 Prozent gestiegen. Es ist der höchste Wert seit über zwei Jahrzehnten.
Das liegt natürlich nicht alleine an Mileis Reformen – wiederkehrende Rezessionen und hohe Inflation haben in dem rohstoffreichen Land schon vorher dazu geführt, dass jetzt mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Armut lebt, darunter etwa sieben von zehn Kindern.
Allerdings strich der neue Präsident eben auch viele der dringend benötigten Hilfen an die Ärmsten der Bevölkerung, wie zum Beispiel Essenslieferungen für Gassenküchen. In den armen Stadtvierteln Argentiniens kann heute angesichts der zunehmenden Armut von einem Nahrungsmittelnotstand gesprochen werden. Die Unterernährung nimmt zu, und die Ärzte behandeln Kinder wegen Augenkrankheiten, die mit einer vitaminarmen Ernährung zusammenhängen. Sogar Skorbut tritt wieder auf.
Statt Direktzahlungen soll gemäss Milei die Wirtschaft die Menschen bald wieder aus der Armut holen. So hofft die Regierung, dass ein neues Gesetz, das umfangreiche Investitionsanreize wie mehrjährige Steuervergünstigungen und Zollbefreiungen vorsieht, Kapital anziehen und das Wachstum ankurbeln wird.
Die Argentinierinnen und Argentinier sind zwar sehr geteilter Meinung über Milei, der sich als stolzer Antifeminist und Skeptiker des Klimawandels gibt. Doch trotz massiver Ausgabenkürzungen ist der Rechtspopulist zur Überraschung vieler bei seinen Landsleuten beliebter als seine beiden Vorgänger nach ihrem ersten Jahr.
Anfang Oktober war Mileis Popularität zwar durch einen landesweiten Massenprotest gegen seine Ausgabenkürzungen bei den öffentlichen Universitäten erschüttert worden. Schon im November kletterte seine Beliebtheit von 43 zurück auf 47 Prozent, womit Milei noch immer der beliebteste aktive Politiker Argentiniens ist.
Dieser Rückhalt in der Bevölkerung ist entscheidend für seine weiteren Reformpläne, da Mileis eigene Partei aktuell nur über eine geringe Anzahl von Sitzen im Kongress verfügt.
Es werde zunächst noch schlimmer werden, bevor es wieder besser werde, sagte Javier Milei bei seinem Amtsantritt. Nun sieht man – zumindest anhand mehrerer wirtschaftlicher Kennzahlen – tatsächlich eine Art Erholung, die sich einzustellen scheint. Das widerspiegelt sich auch in der zuletzt leicht heraufgestuften Kreditfähigkeit Argentiniens, der abnehmenden Risiko-Prämie, der stark steigenden lokalen Börse sowie der zunehmenden Bereitschaft globaler Investoren, ihr Geld wieder in Argentinien anzulegen.
Es ist aber vor allem der Rückgang der Inflation, der vielen Argentinierinnen und Argentiniern eine Verschnaufpause gibt – und mit dem die relativ hohe Zufriedenheit mit der Präsidentschaft zu erklären sein dürfte.
Trotzdem: So einfach ist es nicht. Das Leben dürfte sich für viele verbessert haben. Das gilt allerdings lediglich für Menschen, die (noch) einen Job haben. Für alle anderen – und es gibt gerade immer mehr von ihnen – sieht es anders aus. Ein Journalist in der US-Zeitschrift "The New Yorker" schreibt dazu treffend:
Zudem ist es nach einem Jahr Präsidentschaft noch völlig unklar, wie nachhaltig die Trendwende in den ökonomischen Größen ist, und dies aus mehreren Gründen. Gegen eine Dauerhaftigkeit spricht, dass es auch in der Vergangenheit zahlreiche Episoden gab, in denen in Argentinien zunächst alles nach Besserung aussah – bevor es sich wieder ins Gegenteil verkehrte.
Dieses Risiko besteht auch jetzt. So können Investoren, die sich Argentinien wieder zugewandt haben, bei kleinsten Unsicherheiten schnell weg sein. Und das noch bevor die Früchte der wirtschaftlichen Erholung die Menschen erreicht haben, die in Armut leben und derzeit besonders darben müssen. Viele glauben denn auch, dass der zarte wirtschaftliche Erfolg nicht nur, aber auch durch willige Investoren und viel Spekulation begründet ist – es wäre nicht das erste Mal.
Politisch wird es darauf ankommen, wie beliebt Javier Milei bleibt – und was die Opposition macht. Bisher profitierte er nämlich von einem ziemlich zerstrittenen politischen Gegner, das dürfte aber auch nicht immer so bleiben.
Und nicht zuletzt gilt auch Mileis Charakter als großes Risiko: Der Präsident ist eine höchst umstrittene und polarisierende Figur, der einiges zuzutrauen ist und die sich nicht zu schade ist, sich mit allen anzulegen. Vor kurzem hat sich Milei zum Beispiel mit seiner Vizepräsidentin zerstritten. Zudem legt er sich immer wieder mit politischen Gegnern an und zettelt "Kulturkriege" an. Er wettert etwa gegen die "Transgender-Ideologie" und gegen Abtreibung und leugnet den menschengemachten Klimawandel.
Das alles schafft Feinde – die noch zu den bisherigen wirtschaftlichen Verlierern seiner Reform hinzukommen.